Geschichtspolitik: Die Brücke zum ehemaligen KZ

Nr. 16 –

In Belgrad kämpfen Historiker:innen und Aktivist:innen um die Erinnerung an den Genozid an den Rom:nja während des Zweiten Weltkriegs. Zu schaffen machen ihnen die Geschichtslügen des Systems Vučić – und ein dubioses Bauprojekt.

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Gedenkstätte im ehemaligen Lager Staro Sajmište
Kein Rütteln am serbischen Opfermythos: Gedenkstätte im ehemaligen Lager Staro Sajmište.

Milovan Pisarri beugt sich nach vorne und kratzt den Aufkleber eines Belgrader Fussballvereins von einer Tafel. Auf dem verfallenen Gelände von Topovske Šupe, mitten in der serbischen Hauptstadt, lässt an diesem sonnigen Frühlingsmorgen nur die Informationstafel die historische Bedeutung des Ortes erahnen. Hier befand sich während des Zweiten Weltkriegs ein Lager für Juden und Roma.

Pisarri ist Historiker, er hat 2014 eine der ersten Monografien zum «Samudaripen» in Serbien vorgelegt, dem durch das nationalsozialistische Deutschland geplanten und verübten Genozid an den Rom:nja. Er versteht seine Forschung als Beitrag im Kampf gegen das Vergessen und sich selbst als Aktivisten. So ist die immer wieder durch Vandalismus beschädigte Informationstafel auch Ergebnis seiner Erinnerungsarbeit. Sie verlinkt über einen QR-Code auf eine Website mit einigen Quellen und den Namen jener Toten des Lagers, die bekannt sind.

Erinnerungspolitischer Sonderweg

Bis heute gibt es in Serbien keinen zentralen Ort des Gedenkens an den Samudaripen. Mit Blick auf Europa ist das keine Ausnahme: Pisarri schreibt in seinem Buch von einer jahrzehntelangen «Massenamnesie» in der europäischen Erinnerung an die bis zu 500 000 Ermordeten, die er in einen Zusammenhang mit dem Antiziganismus in Kultur und Wissenschaft und der bis heute andauernden sozialen Exklusion von Sinti:zze und Rom:nja stellt. Erst 2015 erklärte das Europäische Parlament den 2. August zum internationalen Gedenktag. Selbst in Deutschland, dem Land der Täter:innen, mussten Rom:nja-Aktivist:innen jahrzehntelang für ein Denkmal kämpfen. 1974 errichtete Vinzenz Rose, Sinto-Bürgerrechtler und Überlebender, ein erstes kleines Mahnmal in Auschwitz – dies jedoch privat finanziert und von der Öffentlichkeit ignoriert. Danach vergingen fast vierzig Jahre, ehe auch in Berlin ein zentrales Denkmal eröffnet wurde.

Historiker Milovan Pisarri vor dem ehemaligen Lager für Juden und Roma
Die serbische Erinnerungspolitik hat ihn müde gemacht: Historiker Milovan Pisarri vor dem ehemaligen Lager für Juden und Roma.

Eine Besonderheit bildete Jugoslawien. In der von Partisan:innen gegründeten sozialistischen Vielvölkerrepublik gab es unzählige Denkmäler in Erinnerung an den «Volksbefreiungskampf» gegen den Nationalsozialismus. Explizit gedacht wurde dort auch der ermordeten Rom:nja, zum Beispiel mit der 1968 von Nebošja Delja entworfenen «Kristallblume» im Šumarice-Gedenkpark in Kragujevac im heutigen Serbien. Gewidmet ist sie einem fünfzehnjährigen Rom, den die deutschen Besatzer ermordet hatten. Doch in dem als sozialer Kitt funktionierenden Gedenken waren Rom:nja immer nur Teil des grossen Ganzen: der «bratstvo i jedinstvo» (Brüderlichkeit und Einheit) der jugoslawischen Völker. Als diese schon zuvor fragile geschwisterliche Einheit im nationalistischen Morden der jugoslawischen Zerfallskriege unterging, endete damit auch ein erinnerungspolitischer Sonderweg.

Heute könnte eine inklusive Erinnerungskultur gerade angesichts des Rechtsrucks die soziale Kohäsion fördern, sagen Nadja Greku und Bratislav Mitrović vom serbischen Zweig des European Roma Institute for Arts and Culture (ERIAC Serbien). Sie sei die Grundlage für eine zukünftige Gesellschaft der vielen.

Eine neue Gedenkstätte

Greku und Mitrović sind Teil einer jungen Generation von Rom:nja in Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, die akademische Abschlüsse erlangt haben, obschon die Barrieren nach dem Niedergang Jugoslawiens wieder höher geworden waren. Diese Barrieren seien vor allem ökonomischer Art, wie die Soziologin und Politikwissenschaftlerin Greku ausführt. Es gebe das rassistische Vorurteil, dass Rom:nja nicht an universitärer Bildung interessiert seien, was erwiesenermassen Unfug sei: Wenn man Serb:innen oder Deutsche, die unter den Bedingungen der Rom:nja-Community ­– ländlich, schwache Infrastruktur, niedriges Lohnniveau – lebten, vergleiche, habe man denselben Anteil an Akademiker:innen.

Mitrović ergänzt, dass er die Aufgabe derer, die wie er den Klassenaufstieg durch Bildung geschafft hätten, darin sehe, für die Community zu kämpfen. Elementarer Teil davon ist für die beiden Aktivist:innen die Auseinandersetzung mit dem Trauma des Samudaripen. Und dafür brauche es Orte des Erinnerns, die ausdrücklich der von Minderheiten durchlebten Gewaltgeschichte gewidmet seien: «Es ist Zeit, an diesen Orten neue Wurzeln zu schlagen», sagt Greku.

Portraitfoto von Nadja Greku
Nadja Greku, ERIAC Serbien

Hier treffen sich die Wege und Hoffnungen der beiden mit denen von Milovan Pisarri. Sie richten sich auf das Memorijalni Centar Staro Sajmište, eine Gedenkstätte in Belgrad, die 2021 durch ein Gesetz des serbischen Parlaments gegründet wurde.

Staro Sajmište, zu Deutsch «Altes Messegelände», liegt im Zentrum des heutigen Belgrad am Ufer der Save, direkt gegenüber der Altstadt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Stadtviertel als Messegelände der Moderne erschlossen, der Name erinnert an diese ursprüngliche Bestimmung. Mit dem Überfall auf das Königreich Jugoslawien 1941 errichteten die deutschen Besatzer dort ein Konzentrationslager, in dem Jüdinnen und Romnja mit ihren Kindern interniert wurden. Innerhalb kürzester Zeit ermordeten die Deutschen alle Jüdinnen in einem mobilen Gaswagen. Auch Romnja wurden ermordet. Nur Frauen, denen die Belgrader Stadtverwaltung attestierte, dass sie einen festen Wohnsitz hätten, wurden entlassen.

Nach der Befreiung Belgrads setzte sich Moše Pijade, enger Vertrauter Titos und jüdischer Partisan, dafür ein, Staro Sajmište an Künstler:innen zu übergeben. Zu jugoslawischen Zeiten wurden aus den Gebäuden des ehemaligen Lagers Ateliers. Noch heute leben Menschen auf dem Gelände, einige von ihnen Künstler:innen, andere nicht.

Ein dubioses Bauprojekt

Das Gesetz sieht vor, dass auch das ehemalige Lager Topovske Šupe Teil der neuen Gedenkstätte sein soll. Hier wurden jüdische Männer und Roma auf engstem Raum gefangen gehalten und mussten Zwangsarbeit leisten. Bis Ende 1941 wurden alle Internierten in der Nähe der Stadt erschossen und in Massengräbern verscharrt. Für Milovan Pisarri ist Topovske Šupe daher einer der entscheidenden Orte für den Samudaripen in Serbien. Dass dieser (zwar bisher nur nominell) Teil der Gedenkstätte wurde, ist dem hartnäckigen Einsatz Pisarris und weniger anderer zu verdanken. Heute ist er Mitglied des Lenkungsausschusses der Gedenkstätte und engagiert sich für einen Rückkauf des Geländes, das aktuell in privatem Besitz ist.

Ein schwieriges Vorhaben, denn dass überhaupt städtischer Raum öffentlichen Zwecken gewidmet wird, ist im Serbien der Gegenwart keine Selbstverständlichkeit. Unter dem autoritären und korrupten System von Staatspräsident Aleksandar Vučić und seiner Serbischen Fortschrittspartei, die seit dreizehn Jahren die Zügel in der Hand hält, ist gerade das Belgrader Zentrum zur Beute des Kapitals geworden. Wenn man heute von Staro Sajmište aus auf das andere Save-Ufer schaut, erblickt man dort die gläsernen Ungetüme der «Belgrade Waterfront». Das Stadtentwicklungsprojekt, realisiert mit den Milliarden eines Finanzfonds aus Abu Dhabi, erinnert an den baulichen Grössenwahn autoritärer Herrscher rund um den Globus und gleicht einem geschichtslosen Albtraum.

das ehemalige Lager To­povske Šupe
Derzeit noch in privatem Besitz: Das ehemalige Lager To­povske Šupe.

«Wir haben lobbyiert und lobbyiert und noch mehr lobbyiert», berichtet die geschäftsführende Direktorin des Memorijalni Centar von den Hindernissen, die bei der Errichtung der Gedenkstätte angesichts einer solchen Stadtpolitik zu überwinden waren. Auch internationaler Druck war eine grosse Hilfe, der Einsatz des damaligen Vorsitzenden der International Holocaust Remembrance Alliance habe das Gesetzesvorhaben entscheidend vorangebracht.

Dieser Etappensieg ändert jedoch nichts an den grundlegenden Prioritäten in Vučićs Serbien. Überdeutlich wird dies an den aktuellen Arbeiten am Neubau der Stari-Savski-Brücke, die «Belgrade Waterfront» mit Staro Sajmište verbindet. «Solche Bauprojekte versuchen die städtischen Behörden so lange wie möglich zu verheimlichen», sagt Vladimir Tijanić, der für die Grün-Linke Front im Bezirksstadtrat sitzt. Es gebe Berichte von Überlebenden des Konzentrationslagers, dass auf der Baustelle der Stari-Savski-Brücke einst Ermordete verscharrt worden seien; trotzdem habe die zuständige Kulturbehörde ihre Zustimmung gegeben. Er habe versucht, über Anträge Dokumente zum Brückenprojekt einzusehen, die eigentlich vorhanden sein müssten, erzählt Tijanić – die gebe es aber nicht. Dass sich Bauprojekte wie dieses in der Hand eines korrupten Klüngels aus Regierungspartei und Privatwirtschaft befänden, sei ein offenes Geheimnis.

Tijanić stellt fest: «In diesem Land machen die Institutionen ihren Job nicht, das ist das Grundproblem.» Inzwischen ist die Baustelle trotz zivilgesellschaftlichem Protest auf eine beachtliche Grösse angewachsen und erschwert den Zugang zum Gedenkstättengelände.

Täter-Opfer-Mythen

Leichenfledderei wird in Serbien aber auch ideologisch betrieben. Unter dem Schutz der nationalistischen Regierung verbreiten rechtsextreme Hooligans in überdimensionierten Schriftzügen und mit Murals von Kriegsverbrechern überall im Land einen Geschichtsrevisionismus, der serbische Täterschaft verharmlost und die Serb:innen zu blossen Opfern oder gar zu Held:innen verklärt.

Die Erinnerungspolitik ist eine Kampfzone, in der es Historiker wie Milovan Pisarri nicht leicht haben. «Ich bin sehr, sehr müde», gesteht er. Jedes Mal, bevor Pisarri eine Frage beantwortet, lehnt er sich zurück, sodass sein ganzer Körper kurz auf den Fersen balanciert, und beginnt, in ausholenden Gesten die Zusammenhänge einzufangen. Der Historiker warnt vor den Folgen eines Geschichtsbilds, mit dem ganze Generationen herangezogen würden, die selektive Vorstellungen von Täterschaft hätten.

Das Muzej žrtava genocida (Museum der Genozidopfer) ist eine der Institutionen, die zu einem serbischen Opfermythos beitragen. Gegründet wurde es während der Jugoslawienkriege 1992, es soll an den Genozid an den Serb:innen, den Holocaust und den Samudaripen erinnern. Doch mit seiner Forschung arbeitet es bis heute an einer Geschichtserzählung, die durch den alleinigen Fokus auf die an Serb:innen begangenen Verbrechen die ausgeübten Gewalttaten von Serb:innen relativiert. Dazu gehört insbesondere die Leugnung des Genozids von Srebrenica 1995. Damit folgt das Museum der Position der serbischen Regierung. Nah sind sich Museum und Staat auch personell: Der frühere Direktor ist heute als Informationsminister in der Regierung tätig.

Portraitfoto von Bratislav Mitrović
Bratislav Mitrović, ERIAC Serbien

Dass die kroatische Ustascha während des Zweiten Weltkriegs einen Völkermord an den Serb:innen verübte, ist eine historische Tatsache. In Staro Sajmište waren ab Mai 1942 neben Jüdinnen und Romnja auch Serb:innen interniert, die von der faschistischen Bewegung aus Kroatien nach Serbien deportiert worden waren. Das Museum der Genozidopfer wollte auf dem ehemaligen Lagergelände deshalb vor allem eine allgemeine Leidensgeschichte des serbischen Volkes erzählen. Nach langem Ringen gelang es, seine Einflussnahme auf die Gedenkstätte zu verhindern: In der ersten, noch kleinen Ausstellung wird die Geschichte des Lagers entlang der historischen Quellenlage erzählt. Nadja Greku und Bratislav Mitrović stehen in einem engen informellen Austausch mit der Leitung der Gedenkstätte, um ihre Vorstellungen des Gedenkens an den Samudaripen in die Realität umzusetzen. Gerade erarbeiten sie gemeinsam eine Absichtserklärung. Greku und Mitrović träumen von einem Museum, einer Bildungsstätte und einem Ort des Zusammenkommens und Trauerns für Rom:nja.

Doch die finanzielle Lage ist schwierig. Versprochen wurden der Institution mehr als dreissig Mitarbeiter:innen. Heute, drei Jahre nach ihrer Gründung, arbeiten in der Gedenkstätte neun Personen. Diesen fällt die gewaltige Aufgabe zu, Quellen zu sammeln, zu einem kaum bearbeiteten Thema zu forschen, eine Datenbank zu erstellen, Zeitzeug:inneninterviews zu führen, Ausstellungen und Bildungsprogramme zu erarbeiten.

Derweil sind viel weitreichendere Bauarbeiten geplant. Das gesamte ehemalige Lagergelände soll in den Besitz der Gedenkstätte übergehen, weitere Objekte sollen renoviert werden. Diese Pläne würden die Umsiedelung zahlreicher Menschen zur Folge haben, die auf dem Gebiet leben. Die Gedenkstättenleitung sieht die Belgrader Stadtverwaltung in der Verantwortung, alternative Wohnungen zu beschaffen. Ob die Verdrängten tatsächlich ein angemessenes Tauschangebot erhielten, bleibt offen.

Gegen das System Vučić

Nadja Greku und Bratislav Mitrović plädieren wiederum für eine stärkere Einbindung von Topovske Šupe als Gedenkort, da dort die Gebäude leer stehen oder durch ein Unternehmen genutzt werden. Eine Erweiterung der Gedenkstätte um das Gelände von Topovske Šupe scheint jedoch aufgrund der ungeklärten Finanzierung noch in weiter Ferne zu liegen. Erst einmal wird die Gedenkstätte daran arbeiten, ihre Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Bildungsprogramme zu entwickeln. Aktuell ist sie vor allem eines: Baustelle. Und wie Bezirksstadtrat Tijanić versicherte, weiss man zurzeit in Belgrad nie, wohin sich eine solche entwickelt. Anders als sonst vergibt hier jedoch nicht nur die Regierungspartei die Aufträge.

Zuletzt ist das System Vučić das erste Mal ernsthaft ins Wanken geraten. Nachdem durch den Zusammensturz eines verpfuschten Baus in Novi Sad im November sechzehn Menschen gestorben waren, explodierte die Wut über die Cliquenherrschaft. Serbien erlebt seitdem einen Volksaufstand.

Könnte an dessen Ende eine Gesellschaft stehen, die der Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit wie dem Samudaripen den notwendigen Platz einräumt? Nadja Greku ist skeptisch. Sie beobachte auf den Demonstrationen viel Antiziganismus und eine gerade für Minderheiten beunruhigende Nationalflaggeneuphorie.

«Ich erlebe Demokratie, wie sie sein sollte», schwärmt dagegen Milovan Pisarri. Er erzählt von Eltern, die streikende Lehrer:innen unterstützen, und Nachbarschaftsbündnissen, die ohne die Blockaden nie zustande gekommen wären. Zur Vorbereitung auf den 15. März, der grössten Demonstration in der Geschichte des Landes, hätten die Studierenden mehrsprachige Willkommensschilder für die Anreisenden aus den verschiedenen Teilen Serbiens gebastelt. Zum ersten Mal sei auch ein Schild in Romanes dabei gewesen.