Jugoslawien: War das Mass voll?

Nr. 25 –

Die WOZ war bemüht, den Zerfall Jugoslawiens nicht in ethnischen Kategorien wahrzunehmen. Sie leistete sich dabei ein paar Ausrutscher.

Der jüngste Streit um den Schriftsteller Peter Handke und seine «proserbischen» Positionen hat gezeigt, dass die Deutung der jugoslawischen Kriege auch fünfzehn Jahre nach Kriegsausbruch in Westeuropa noch für heftigen Streit sorgen kann.

Gestritten wurde seinerzeit auch bei der WOZ - intern und mehrmals auch im redaktionellen Teil der Zeitung. So am 16. Juni 1995: Der Psychoanalytiker Paul Parin, der selber mehrmals in der WOZ zum Thema geschrieben hatte, und der Philosoph Arnold Künzli, Gründungsmitglied des ProWOZ-Fördervereins, protestierten heftig gegen die WOZ-Berichterstattung. «Was weiss die WOZ?», fragte Parin; Künzli gab unter dem Titel «Das Mass ist voll» seinen Austritt aus dem ProWOZ bekannt. Die beiden warfen der WOZ vor, eine «mehr oder weniger ausgeprägte Sympathie für die serbische Seite» (Künzli) zu bekunden, obwohl «kein Zweifel darüber bestehen kann, wer in Bosnien-Herzegowina die Angreifer und Eroberer sind und wer die Opfer» (Parin). Für die Auslandredaktion antworteten Michael Stötzel und Pit Wuhrer.

Suggestiver Zwischentitel

Der Zerfall Jugoslawiens war in der WOZ seit deren Bestehen immer wieder Thema gewesen. Nachdem am 25. Juni 1991 Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit erklärten und in beiden Republiken der Krieg begann (in Slowenien dauerte er nur zehn Tage, in Kroatien bis 1995, wobei die Waffen von Anfang 1992 bis Mai 1995 ruhten), berichtete die WOZ relativ ausführlich und oft in Form von Reportagen. Dabei war nicht das militärische Geschehen im Fokus, sondern man veröffentlichte Hintergrundgeschichten, die auch die Ränder des Konflikts beleuchteten. Die WOZ schrieb über ökonomische und historische Ursachen, über die Kriegsstimmung in den österreichischen Medien, die jugoslawische Friedensbewegung und die wieder auferstandene (faschistische) Ustascha in Kroatien. Eine Reportage berichtete über die Situation im Sandzak (die mehrheitlich muslimisch bewohnte Region auf beiden Seiten der montenegrinisch-serbischen Grenze), mehrere Texte über den Kosovo. Damit verbunden war der - völlig berechtigte - Vorwurf, die «internationale Gemeinschaft» vergesse angesichts von Slowenien und Kroatien die Situation im restlichen Jugoslawien. Schon jetzt betonte die WOZ - ebenfalls zu Recht - dass der Konflikt nicht einseitig als serbische Aggression verstanden werden könne. Damit verbunden war die - problematische - These, schuld am Krieg seien wesentlich die Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens gewesen, und deren Anerkennung durch die Europäische Gemeinschaft (EG) im Januar 1992 habe den Konflikt noch angeheizt und den Krieg in Bosnien mitverursacht.

Doch dann lief «mit der WOZ etwas schief», wie Paul Parin später schrieb. Einen ersten, kaum merklichen Ausrutscher leistete sich die WOZ im Januar 1992. Sie druckte einen Artikel des BBC-Journalisten Misha Glenny. Glenny bemerkte, die «verdorbenen serbischen Köpfe» sähen in der von Deutschland vorangetriebenen Anerkennung eine Wiederbelebung der «traditionellen teutonischen Beziehungen in dieser Region», also der Achse des faschistischen Kroatien mit dem Deutschen Reich im Zweiten Weltkrieg. Darüber setzte die Redaktion den suggestiven Zwischentitel «Nur ein serbisches Hirngespinst?»

Auslandredaktors Furor

Anfang April 1992 beschossen Heckenschützen eine Friedensdemonstration in Sarajevo. Das war der Anfang des Krieges in Bosnien. Ein Bild mit DemonstrantInnen, die sich in Sicherheit zu bringen versuchen, auf der Titelseite der WOZ vom 22. Mai war für drei Monate der einzige «Artikel» über den Bosnienkrieg, bis Anfang Juli Auslandredaktor Stötzel einen Leitartikel über «Interventionsdrohungen und andere Ausrutscher» der «internationalen Gemeinschaft» angesichts des Bosnienkriegs schrieb.

Er tat es mit Furor. Stötzel verwahrte sich gegen eine Sicht, die einseitig das Böse auf der serbischen Seite suchte und die auch hierzulande die Medienöffentlichkeit dominierte («Die ‹Weltgemeinschaft› hat sich für ihren Gegner entschieden» - «Da werden Bilder verbreitet, die solche Scheusslichkeiten darstellen, dass man gar nicht mehr zu fragen wagt, ob es sich bei den jeweiligen Tätern denn erkenntlich um Serben handelt»).

Sechs Wochen später (dazwischen lediglich ein kurzer Bericht über deutschen Waffenschmuggel nach Kroatien) erschien der zweite Leitartikel zu Bosnien. Mit bitterem Sarkasmus schrieb Stötzel über PolitikerInnen und Hilfswerke: «Sie alle sehen sich als Sprachrohr einer Bevölkerung, die plötzlich gar nicht mehr weiss wohin mit ihrer Liebe zu kroatischen und bosnischen Flüchtlingen. Selbst solchen HeuchlerInnen ist es vielleicht nicht zu wünschen, dass sie den Krieg, von dem sie sprechen, mal miterleben, aber sie schaffen es immerhin, fast so etwas wie Sympathie für die Zöllner von St. Margrethen aufkommen zu lassen, die am Montagabend sechzehn bosnischen Flüchtlingen die Einreise verweigerten, weil diese heute nichts anderes sein können als gestern: unerwünschte Ausländer.» Dazu bekräftigte Stötzel die Sichtweise, dass «die Teilrepubliken [von Deutschland und Österreich] so massiv in ihren Abspaltungswünschen bestärkt» und geradezu in die Sezession getrieben worden seien - und damit den Krieg ausgelöst hätten.

Mehr Bougainville als Bosnien

Heute sagt Michael Stötzel, er sei damals auf Podiumsveranstaltungen der Buhmann gewesen, weil er sich weigerte, den Krieg in ethnischen Kategorien zu deuten, sich für eine der Kriegsparteien zu entscheiden und die Frage aus dem Publikum, ob er nun «für oder gegen die Muslime» sei, zu beantworten. Noch heute hält er die Forderung für absurd, die damals auch aus der Redaktion gekommen sei, die WOZ müsse die Massenvergewaltigungen verurteilen: «Als hätte jemand auf die Idee kommen können, wir fänden Massenvergewaltigungen etwas Gutes.»

Die WOZ leistete sich immer mal wieder Lücken von bis zu drei Monaten, in denen das ehemalige Jugoslawien für sie kein Thema war. Über Unruhen in Bougainville (Papua-Neuguinea) erfuhren die LeserInnen zeitweilig mehr. Reportagen gab es gar keine mehr, die dominierende Form war jetzt der Kommentar. Meinung statt Fakten. Dabei hatten widersprüchliche Meinungen Platz. So lehnte Paul Parin in einem Essay - in dem er den nächsten Krieg um den Kosovo vorhersah - die Sicht, wonach die slowenische und kroatische Sezession den Krieg verursacht habe, als «serbische Lesart» ab. Doch hatten Parin und Stötzel auch starke Gemeinsamkeiten und teilten die Wut auf eine zynische Politik der «internationalen Gemeinschaft». Im Dezember 1994 schrieb Parin: «In Bosnien haben zwar Uno und EU ihre angekündigten Ziele nicht erreicht, dafür aber ihre machtpolitische Position gestärkt. (...) Europa, Uno und Nato wollen keinen irgendwie gerechten Frieden, sondern den Sieg rücksichtsloser Machtpolitik.»

Zu einer regelrechten kleinen Demonstration gegen die WOZ - und gegen die «Weltwoche» - kam es Anfang Februar 1994. Die «Weltwoche» hatte einen Beitrag des US-amerikanischen Journalisten Peter Brock (siehe «Die Peter-Brock-Affäre») veröffentlicht. Brock behauptete, die westlichen Medien verschwiegen systematisch Verbrechen an serbischen Opfern, während die Berichte über serbische Gräueltaten und namentlich über Massenvergewaltigungen auf Propaganda beruhten und stark übertrieben seien.

Während die meisten Zeitungen Brock scharf zurückwiesen, nahm ihn die WOZ in Schutz, spitzte einige Aussagen Brocks noch zu und kritisierte die «Weltwoche» dafür, dass sie sich nach Protesten halbherzig von Brocks Artikel distanziert hatte: Nun «plappert [die ‹Weltwoche›] wieder ganz selbstverständlich vom ‹gnadenlosen Artilleriebeschuss› Sarajevos, obgleich ihr Autor Peter Brock diese Vorstellung zuvor ausführlich korrigiert hat».

Das war «einfach infam. Und es will uns beim besten Willen keine Erklärung oder Entschuldigung für den Kommentarschreiber einfallen», schrieb die Medienhilfe Ex-Jugoslawien drei Wochen später in der WOZ, und Auslandredaktor Stötzel musste «einräumen, dass ich zu scheusslichen Missverständnissen eingeladen hatte». Die Medienhilfe, die mit der WOZ das Bestreben teilte, den Krieg nicht ethnisch zu verstehen, wies darauf hin, dass unabhängige Medien aller Teile des ehemaligen Jugoslawien ein recht kohärentes Bild der Verbrechen zeichneten.

Fünf Wochen vor dem Massaker in der «Uno-Schutzzone» Srebrenica schrieb Harry Richter auf der Titelseite der WOZ, die Schutzzonen in Bosnien würden von den Muslimen für «Offensiven gegen die Serben missbraucht». Das war zwar inhaltlich richtig - doch die serbischen Angriffe auf die Bevölkerung dieser Städte «Gegenwehr» zu nennen, war doch ein starkes Stück. Richter wiederholte die These, die «unter dem Druck Deutschlands übereilte Anerkennung der einseitig abgespaltenen ehemaligen jugoslawischen Republiken» habe «letztlich direkt zum Ausbruch des Krieges beigetragen». Er forderte die definitive Aufhebung der Sanktionen gegen Jugoslawien, denn das würde «Belgrad den Spielraum für eine Einflussnahme auf die Serben in Bosnien und der [kroatischen] Krajina geben.»

Das «Scherflein» der EG

Damit war das Mass für Künzli und Parin voll. Und der Moment schien gekommen, in dem die Auslandredaktion der WOZ ihre Position nach vier Jahren Krieg systematisch und nüchtern darlegen musste: «Wer den Konflikt in Jugoslawien begonnen hat, ist in der gegenwärtigen Situation schon fast eine zweitrangige Frage», schrieben Michael Stötzel und Pit Wuhrer am 16. Juni 1995. Sie setzen dann aber doch den Akzent auf die Rolle Sloweniens und Kroatiens - sei doch «die Ankündigung einer Aufteilung des Landes auch eine Form der Attacke». Die nördlichen Republiken hätten sich vom unterentwickelten Süden des Landes trennen wollen. (Man kann das als wirtschaftlichen Egoismus empfinden. Aber angesichts der Hyperinflation, die den jugoslawischen Dinar auffrass und die von der jugoslawischen Zentralbank angeheizt wurde, wird dieser «Egoismus» von SlowenInnen und KroatInnen verständlich.) Sie hätten ein Interesse daran gehabt, «jene Hindernisse für ausländische Kapitalinvestitionen zu schleifen, die noch aus ‹sozialistischen› Zeiten vorhanden waren. Gab es dafür einen anderen Weg als Krieg?»

In der Anerkennung der Unabhängigkeit der Republiken sahen Wuhrer und Stötzel, schwächer formuliert als auch schon, ein «Scherflein», das die EG zum Krieg beigetragen habe. Sie plädierten für Verhandlungen, um eine Waffenruhe zu erreichen, «um jeden Preis». Denn «grundsätzlich ist noch die ‹ungerechteste› Vereinbarung zur Beendigung der Kämpfe eine Voraussetzung dafür, dass die Menschen überleben». Eine militärische Intervention des Westens sei «keine realistische Option».

Nach dem Massaker von Srebrenica sahen sich Wuhrer und Stötzel in ihrer Meinung bestätigt, dass die Politik des Westens versagt habe. Die «Einrichtung der Schutzzone von Srebrenica war das wohl schäbigste Beruhigungsmanöver der Herren in Sicherheitsrat und Nato. (...) Eigentlich spricht alles dafür, dass der bosnisch-serbische Expansionismus Teil einer ganz nüchternen, international gebilligten ‹Frontbegradigung› ist mit dem Ziel, Problemgebiete auszuräumen.»

Die These der «Frontbegradigung», zu der alle Parteien (ausser der lokalen Bevölkerung) ihr stillschweigendes oder auch explizites Einverständnis gaben, vertritt auch der niederländische Historiker und Journalist Geert Mak in seinem jüngsten Buch («In Europa»). Für den Zagreber Philosophen Zarko Puhovski hat diese einvernehmliche Frontbegradigung mit der Eroberung Westslawoniens durch die kroatische Armee im Mai 1995 begonnen.

Bismarck-Zynismus

Hatte die WOZ nun «Recht» oder nicht? War sie «serbenfreundlich»? Man muss sich nicht weit zum Fenster hinauslehnen, um festzustellen, dass zwar von allen Parteien Kriegsverbrechen begangen wurden, die grösste Schuld aber auf serbischer, die geringste auf muslimischer Seite lag und dass die WOZ dies nicht verhältnisgetreu abbildete. Eine verhältnisgetreue Abbildung war aber auch nie der Anspruch der WOZ, und es ist tatsächlich wenig sinnvoll, in einer Wochenzeitung das, was schon täglich in den Tageszeitungen steht, zu wiederholen.

Durch ihre wiederholte Betonung der Kriegs(mit)schuld der sezessionistischen Republiken unterschlug die WOZ aber die Tatsache, dass die Jugoslawische Volksarmee - oder Teile davon - den Krieg für den Fall des Auseinanderbrechens Jugoslawiens von langer Hand geplant hatten. Wenn auch die Hoffnung der Republiken auf die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit den Zerfall Jugoslawiens beschleunigt haben mag, so spricht doch nichts dafür, dass dieser Prozess ohne die Beschleunigung von aussen weniger blutig verlaufen wäre. Schliesslich suggeriert das Argument, das nicht sezessionistische Serbien wäre ein Garant für den Erhalt des Gesamtstaats gewesen. Dabei war gerade der aggressive (gross)serbische Nationalismus, den vor allem Slobodan Milosevic benutzte, einer der stärksten Faktoren im Zerfall Jugoslawiens. Dieser richtete sich ursprünglich vor allem gegen die AlbanerInnen des Kosovo - und hier, in ihrer Kosovoberichterstattung, benannte die WOZ diesen Nationalismus klar.

Man braucht sich aber auch nicht weit aus dem Fenster zu lehnen, um festzustellen, dass die WOZ in dem Punkt Recht hatte: dass nämlich die «internationale Reaktion bestenfalls verworren und manchmal dumm, im schlimmsten Fall verantwortlich für den weiteren Kriegsverlauf» war, wie Mary Kaldor, Politologin an der London School of Economics, 1999 in ihrem hervorragenden Buch «Neue und alte Kriege» schrieb. Der «Westen» agierte mit einer Doppelmoral: Offiziell neutral, belieferten die USA Kroatien und Bosnien in der zweiten Kriegshälfte mit Waffen und bildeten deren Militärs aus. Die Nato drohte mit Militärschlägen, um Verstösse gegen Uno-Beschlüsse zu ahnden, und flog ein paar Luftangriffe, hielt es aber ansonsten mit Bismarck, der gesagt hatte, der Balkan sei nicht die Knochen eines einzigen (deutschen) Soldaten wert. Und man richtete «Schutzzonen» ein, die von Uno-Soldaten bewacht wurden, war aber nicht bereit, diesen Truppen die nötige Stärke zu geben, um ihren Auftrag auszuführen.

Wenn auch fraglich ist, ob die Politik des «Westens» eine Kriegsursache gewesen war, so trugen die Vermittlungsversuche zuerst der EG/EU, dann auch der USA doch sicher dazu bei, den Krieg anzuheizen. Denn die Vermittler setzten von Anfang an auf ein falsch verstandenes «Schweizer Modell» ethnisch definierter Kantone (als hätten die Schweizer Kantone etwas mit Ethnien zu tun). Damit übernahmen sie «die Prinzipien, die überhaupt den Krieg entfacht haben», wie Jasna Bastic, eine aus Sarajevo geflüchtete Journalistin, im Februar 1993 in der WOZ schrieb. Diese Prinzipien bestimmten auch das Dayton-Friedensabkommen, das heute noch gilt und jedes wichtige Amt in der bosnischen Regierung dreifach besetzt: mit einem Bosniaken (Muslim), einem Kroaten und einem Serben, was de facto bedeutet: einem bosniakischen, einem serbischen und einem kroatischen Nationalisten.

Prototyp des «neuen Kriegs»

Eine solche Sichtweise übersieht, dass es noch «eine vierte Partei» gab, wie Jasna Bastic schrieb: «die nichtnationalistische Seite». Und eine Konfliktlinie, die nicht zwischen den drei ethnisch definierten Kriegsparteien verlief, sondern zwischen den NationalistInnen aller Parteien einerseits und der restlichen Bevölkerung.

Und dieser Rest war nicht klein: 1990 hatten sich in einer Umfrage in Bosnien 74 Prozent der Bevölkerung für ein Verbot nationalistischer Parteien ausgesprochen. Dass ein halbes Jahr später dann doch 70 Prozent für «ihre» nationalistische Partei votierten, interpretiert Mary Kaldor so, dass sich die Menschen «gezwungen sahen, sich um ihre Gemeinschaften zu scharen, nachdem die politische Mobilisierung einmal getrennt nach Ethnien stattfand».

Im Kriegsverlauf hatten die Kriegsfürsten aller drei Seiten viele konvergierende Interessen. Sie waren oft weniger daran interessiert, den Krieg zu gewinnen, als ihn zu schüren, da sie vom Krieg als solchem profitierten. So kam es zur Zusammenarbeit zwischen Kriegsgegnern, während Verbündete gegeneinander arbeiteten; es gab geheime Abkommen und inszenierte Schlachten (mit echten Toten), deren Ausgang im Voraus festgelegt war. Das trug zur Unübersichtlichkeit des Konflikts bei, und es sind wesentliche Merkmale dessen, was Kaldor «neue Kriege» nennt. Wer den Krieg als Konflikt dreier Ethnien verstand, war für solche Mechanismen blind.

Die WOZ versuchte, die Kriege nicht in ethnischen Kategorien zu verstehen. Das war richtig, und es gelang ihr oft. Insofern sie aber glaubte, einer einseitig antiserbischen Darstellung des Konflikts ein Korrektiv entgegenstellen zu müssen, geriet sie selber in die ethnische Falle. Sie jubelte einem Peter Brock zu - und übersah, dass Brock mit umgekehrten Vorzeichen das tat, was er bei den anderen anprangerte. Sie gab einem Harry Richter eine Plattform, der unter dem Vorwand der Neutralität tatsächlich Kriegsverbrechen verharmloste. Und manchmal vergriff sie sich arg im Ton.




Die Peter-Brock-Affäre

Am 20. Januar 1994 publiziert die «Weltwoche» unter dem Titel «Bosnien: So logen Fernsehen und Presse uns an» einen langen Artikel eines nicht näher vorgestellten Autors namens Peter Brock. Es war eine Übersetzung aus der US-amerikanischen Zeitschrift «Foreign Policy». Brock - Redaktor eines texanischen Regionalblatts - behauptet in seinem Artikel, viele (er suggeriert: die meisten) Berichte über Gräueltaten serbischer TäterInnen in Bosnien basierten auf Propaganda der kroatischen und der bosnischen Regierung, während Verbrechen mit serbischen Opfern verschwiegen würden. Die Medien würden teils aus mangelnder journalistischer Sorgfalt, teils absichtlich zu Instrumenten antiserbischer PR mit dem Ziel, eine westliche Militärintervention herbeizuschreiben. Brock behauptete unter anderem, der ausgemergelte Mann, dessen Bild als Foto eines muslimischen Insassen eines serbischen Lagers um die Welt ging und unter anderem ein «Time»-Titelblatt schmückte, zeige in Wirklichkeit einen Serben, der an Tuberkulose leide. In dem Bus mit Kindern, der im August 1992 das belagerte Sarajevo verliess und dabei von Heckenschützen beschossen wurde, hätten sich auch serbische Kinder befunden; eines der getöteten Kinder sei ein serbisches gewesen, die westlichen Medien hätten es aber als muslimisches ausgegeben. Von Massenvergewaltigungen könne nicht die Rede sein: Eine Uno-Menschenrechtskommission habe lediglich 119 Fälle dokumentieren können; nicht alle Opfer seien Musliminnen gewesen.

Mit seinem Artikel übte Brock an sich berechtigte Medienkritik. Er war damit ja nicht der Einzige: Die Kriegsberichterstattung war wie der Krieg selber Thema unzähliger Zeitungsberichte und Dokumentarfilme. Doch Brock tat, mit umgekehrten Vorzeichen, was er den anderen vorwarf. Er stützte sich auf fragwürdige Quellen und zitierte unvollständig oder schlicht falsch. Dass der Mann auf dem «Time»-Titelbild in Wirklichkeit ein Serbe sei, basierte auf der Aussage einer Frau, die sich als Schwester des Abgebildeten ausgab. Auf eine Anfrage des Magazins «Time» gab Brock für mehrere seiner Behauptungen das serbische Staatsfernsehen als Quelle an. Dass die im genannten Bus getöteten Kinder von den Westmedien als Muslime ausgegeben worden seien, ist falsch: AP, die weltweit grösste Nachrichtenagentur, sprach korrekt von einem muslimischen und einem serbischen Todesopfer. Die im Uno-Menschenrechtsbericht genannten 119 Fälle schliesslich bezogen sich auf dokumentierte Schwangerschaften nach Vergewaltigungen. Der Bericht schätzte, es seien tatsächlich 24 000 Frauen vergewaltigt worden.

Die US-Zeitschrift «The New Republic» schrieb im September 1994, dass der «Foreign Policy»-Chefredak tor Brocks Artikel gegen Bedenken seiner eigenen Faktenprüfungsabteilung ins Blatt gehievt habe. Und wenn Brock - zweifellos richtig - feststellte, dass die kroatische und die bosnische Seite professionellere PR betrieben als die serbische, die ausländische Medien feindselig behandelte, so liess er es nicht bei der Feststellung bewenden: Im März 1993 hatte er der serbischen Seite eine PR-Strategie vorgeschlagen, die im Organ des Serbian Unity Congress (SUC) publiziert wurde. Der SUC ist eine Diasporaorganisation, auf deren Website das Emblem der extrem nationalistischen Tschetnik-Bewegung prangt. Brock verwendete, wenn er vom SUC schrieb, das Pronomen «wir».

Chronologie eines Zerfalls

• 4. Mai 1980: Staatspräsident Josip Broz Tito stirbt.

• März 1981: Massendemonstrationen und Streiks im Kosovo werden von der serbischen Polizei unterdrückt.

• 1986: Beginn des Aufstiegs von Slobodan Milosevic.

• April 1990: Mehrparteienwahlen in Slowenien und Kroatien.

• Juli 1990: Ausrufung der Republik in Kosovo. Serbien stellt Kosovo unter Zwangsverwaltung.

• 25. Juni 1991: Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens. Zehntägiger Krieg in Slowenien. Im Juli erste schwere Gefechte in Kroatien.

• 25. September 1991: Waffenembargo der Uno gegen Jugoslawien.

• November 1991: Massaker der Jugoslawischen Armee und serbischer Paramilitärs in Vukovar (Ostkroatien).

• 20. November 1991: Unabhängigkeitserklärung Mazedoniens.

• Dezember 1991: Gründung der «Serbischen Republik Krajina» in Kroatien.

• 15. Januar 1992: Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens durch die Europäische Gemeinschaft (EG).

• 5. April 1992: Eine Friedenskundgebung in Sarajevo wird von Heckenschützen beschossen. Kriegsbeginn in Bosnien.

• 6. April 1992: Anerkennung der Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina durch die EG.

• 30. Mai 1992: Uno verhängt Sanktionen gegen Jugoslawien.

• 15. Mai 1993: Vance-Owen-Friedensplan der EG und der Uno für Bosnien scheitert nach einer Ablehnung durch die bosnischen Serben.

• Juli 1993: Schwere Kämpfe zwischen bosnischen Muslimen und bosnischen Kroaten.

• 28. Februar 1994: Die Nato greift erstmals ein und schiesst vier serbische Kampfflugzeuge ab.

• 14. März 1994: Ende des Kriegs zwischen Kroaten und Muslimen in Bosnien; Gründung der bosniakisch-kroatischen Föderation.

• Dezember 1994: Das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nimmt die Arbeit auf.

• 2. Mai 1995: Die kroatische Armee erobert die «Schutzzone» Westslawonien und vertreibt deren serbische BewohnerInnen.

• 11. Juli 1995: Einnahme der «Schutzzone» Srebrenica (und wenig später Zepa) durch serbische Truppen, Massaker an 8000 BosniakInnen.

• 3. August 1995: Die kroatische Armee erobert den Rest der «Serbischen Republik Krajina» und vertreibt serbische BewohnerInnen.

• 30. August 1995: Massive Nato-Angriffe gegen serbische Stellungen in Bosnien.

• 14. Dezember 1995: Friedensabkommen von Dayton.

• Sommer 1998: Eskalation der Situation im Kosovo. Massenflucht.

• 15. Januar 1999: In Racak werden die Leichen von 44 AlbanerInnen gefunden.

• 24. März 1999: Beginn des Nato-Luftkriegs gegen Jugoslawien. Serbische Polizei, Armee und Paramilitärs vertreiben die albanische Bevölkerung.

• 3. Juni 1999: Serbien kapituliert. Kosovo wird Uno-Protektorat, bleibt aber offiziell eine Provinz Serbiens.

• 5. Oktober 2000: Sturz von Slobodan Milosevic.

• 30. März 2001: Slobodan Milosevic wird in Belgrad verhaftet und nach Den Haag ausgeliefert.

• 5. Juni 2006: Montenegro erklärt sich unabhängig.

Die vollständigen Texte von Paul Parin, Arnold Künzli sowie Michael Stötzel und Pit Wuhrer finden Sie hier:

www.woz.ch/artikel/archiv/13508.html

www.woz.ch/artikel/archiv/13509.html

www.woz.ch/artikel/archiv/13510.html

Bis zu unserem Jubiläum im Herbst werden wir eine kleine Auswahl der Highlights vorstellen, die in den letzten 24 Jahren in der jeweiligen Kalenderwoche in der WOZ erschienen sind. Diesmal ist Kalenderwoche 25 Anlass zum Rückblick auf die Jugoslawien-Berichterstattung in der WOZ.