Protestmusik: Besser als 1979

Nr. 46 –

Die britische Skaband The Specials hat ein Album mit gecoverten Protestsongs aufgenommen. Darauf enträtselt sie Leonard Cohen und zweifelt an den hehren Worten von Bob Marley.

The Specials nutzen Musik als Transportmittel für Ideen: So halten es Terry Hall, Lynval Golding und Horace Panter (von links) seit über vierzig Jahren. Foto: Universal Music

«Wir haben eigentlich schon immer Protestsongs geschrieben», sagt Horace Panter (68) im Gespräch mit der WOZ über «Protest Songs 1924–2012», das neue Album der Specials. Der Bassist ist eins von drei verbliebenen Gründungsmitgliedern, er denkt an Songs wie «Too Much too Young», mit dem die jungen Specials 1980 für Geburtenkontrolle und gegen ungewollte Babys ansangen. Und an «Ghost Town», das 1981 exakt in dem Moment an die Spitze der englischen Charts stieg, als im Liverpooler Hafenviertel Toxteth die antirassistischen Riots ausbrachen. «This town, is coming like a ghost town / All the clubs have been closed down / Bands won’t play no more / too much fighting on the dance floor».

Geisterstadt, Clubs dicht, keine Bands mehr, Blut auf dem Dancefloor. Davon singt die 2-Tone-Band – der Name steht für ihr Plattenlabel, für das bei Ska-Fans populäre Karomuster, für die Schwarz-weisse Bandbesetzung – zu einem vom Winde verwehten Zeitlupen-Ska mit Exotikatouch. Nach dem Kollaps der Autoindustrie wurde Coventry, die Heimat der Specials, zur Geisterstadt. Doch «überall in England glauben die Leute, dass ‹Ghost Town› über ihre Stadt geschrieben wurde», sagt Panter.

Nach vielen Splits, Seiten- und Soloprojekten führen der erratische Sänger Terry Hall, Horace Panter und Lynval Golding seit gut zehn Jahren ein Afterlife als The Specials, das 2019 ein Nummer-eins-Album abwirft und die Rente sichert. Und jetzt, Horace Panter? «2020 hat alles verändert mit Black Lives Matter und zivilem Ungehorsam, es war das Jahr von Paranoia und Protest. Ursprünglich wollten wir ein Reggaealbum machen. Dann erkrankten zwei in der Band an Corona, der Lockdown kam. Also haben wir beschlossen, ein Coveralbum mit Protestsongs zu machen. Es war eine akademische Übung: Lass uns recherchieren, nicht die naheliegenden Songs wählen. Okay, wir haben auch ‹Get Up, Stand Up› aufgenommen.»

Politisierter Überdruss

Weniger naheliegend ist, was die Specials aus dem Evergreen von Bob Marley machen. Zurückgenommen, introvertiert singt Lynval Golding «Get Up, Stand Up», als habe er Zweifel an den hehren Worten. Die Specials wissen, dass sie einen Aufruf zur Rebellion aus dem Jamaika der Siebziger nicht eins zu eins übertragen können. Und Panter weiss, wie er den müffelnden Begriff «Protestsong» mit Hier und Jetzt füllen kann. «Wir hatten keine Zielscheiben, keine Adressaten, wir wollten nicht sagen, Trump ist an allem schuld oder Boris Johnson. Wir wollten die Musik als Transportmittel für Ideen nutzen, wie im Mittelalter, als der Troubadour von Dorf zu Dorf zog, als wandelnde Lokalzeitung.»

Aber was sagen uns die alten Lieder heute? Die Specials stellen sie in neue Zusammenhänge und geben ihnen so Aktualität, wie sie vor vierzig Jahren Ska und Reggae aus Jamaika in die britische Gegenwart holten. «Everybody Knows» etwa, ein mystisch verrätselter Song von Leonard Cohen von 1988. Terry Hall nimmt den Text beim Wort, Cohens wolkige Lyrik bekommt einen geradezu konkretistischen Realitätsbezug: «Alle wissen, die Plage kommt / Alle wissen, sie kommt schnell». Aus der düsteren Prophezeiung des Originals wird bei den Specials: die Paranoia vor Corona. «Alle wissen, das Boot ist leck / Alle wissen, der Captain lügt». Aus der Prophezeiung im Original wird im neuen Kontext: das Mittelmeer als Massengrab für Geflüchtete.

Neben Cohen und Marley werden die Talking Heads gecovert, Gospel von den Staple Singers oder Bürgerschreckrock von Frank Zappa. Am überzeugendsten ist das, wenn Hall seinen persönlichen Überdruss an dieser Welt politisiert. «Fuck all the perfect people», flüstert er, statt es rauszubrüllen. Der torkelnde Walzer von Chip Taylor unterläuft den ewigen Imperativ zur Selbstoptimierung mit der Klarstellung, dass ein Strebertrottel ist, wer in einer unperfekten Welt nach Perfektion strebt. Folglich muss sich auch nicht grämen, wer in dieser Welt scheitert: «I Don’t Mind Failing» – wer könnte das Lied der Sängerin und Aktivistin Malvina Reynolds zwingender performen als Hall? Mit zwölf Jahren wird er von Pädosexuellen entführt, seitdem leidet er unter Depressionen. Es ist kein übergriffiger Kurzschluss vom Künstler auf sein Werk, wenn man – mit dem britischen Autor Mark Fisher – behauptet, dass die Gespenster von Halls Leben durch seine Lieder geistern.

Nachdenklicher Optimismus

Für «Protest Songs 1924–2012» greifen die Specials zurück auf antike Spielarten populärer Musik: Rockabilly, Skiffle, Boogie Woogie, Gospel. Notausgang Nostalgie? Panter hält dagegen: «Wir haben uns darüber hinweggesetzt, wie die Specials angeblich klingen sollten.» Klar, «cutting edge» sind sie nicht mehr, aber wäre nicht schon der Versuch lächerlich, von drei «sixty somethings»? Geblieben sind: das Vielstimmige und politische Themen wie Rassismus.

Apropos, wie siehts damit heute aus im UK, Horace Panter? «Besser als 1979. Meine Erfahrung als Lehrer hat mich gelehrt, dass Rassismus von den Eltern vererbt wird. Aber Kinder kommen miteinander aus, teilen Süssigkeiten, spielen Fussball. So verändern sich die Dinge auf organische Art.» Auch dank diesem nachdenklichen Optimismus ist das neue Album mehr geworden als eine selbstgefällige Reise von drei verbitterten alten Männern in die Vergangenheit. Musik zur Zeit, inna Specials way.

The Specials: Protest Songs 1924–2012. Universal. 2021