Pop: Akustische Memes
Die Popmusik von 100 Gecs ist schrill, vertrackt und süss. Auf dem neuen Album, «10,000 Gecs», nimmt sich das Duo des Crossovertrashs der Jahrtausendwende an.
Ska, was war das noch gleich? Nicht die Rootsmusik aus Jamaika, sondern die eher einfach gestrickte Variante, mit der Bands wie Reel Big Fish in den Neunzigern populär wurden: einfältige Offbeatgitarren, Punkriffs, lüpfige Bläser. Kein Genre, das die Zeit gut überstanden hat. Und jetzt kommt ausgerechnet eine der derzeit coolsten Bands des Planeten, das Duo 100 Gecs, und spielt auf ihrem zweiten Album, «10,000 Gecs», gleich in mehreren Songs waschechten Ska-Punk. Was ist hier los? Und vor allem: Wieso macht es so viel Spass?
Bevor 100 Gecs 2019 ihr erstes Album, «1000 Gecs», veröffentlichten, waren sie ausserhalb von speziellen Ecken des Internets – im Game «Minecraft» spielte die Band ihr erstes Konzert – kaum bekannt. Das Netz ist zentral für alles, was Dylan Brady und Laura Les, die beiden Produzent:innen und Stimmen von 100 Gecs, tun. «We’re both incredibly into the net», wir beide sind total Fan vom Netz, brachte Brady es in einem Interview fürs Onlinemagazin «The Outline» auf den Punkt. Achtzig Prozent von «1000 Gecs» entstanden, als Brady und Les weit entfernt voneinander in verschiedenen US-Bundesstaaten lebten, im ständigen Austausch von Soundfiles und E-Mails. Wichtiges Thema in den Songtexten: die Freuden und Abgründe einer Welt, die ständig durch die vernetzten Geräte in der eigenen Hand wahrgenommen wird.
«1000 Gecs» gilt als eins der wichtigsten Alben des Hyperpop und als eins der interessantesten des Jahres 2019. Die Musik darauf ist in jeder Hinsicht schrill: monströs verzerrte Dubstep- und Trapbeats, süsse Popmelodien und quiekende Autotunestimmen, eine dadaistische Samplecollage, surreal plastische Sounds, die einen in durchaus angenehme Panik versetzen, die mal albernen, mal offenherzigen Lyrics. Beeinflusst wurden 100 Gecs genauso vom Free-Jazz-Grindcore-Avantgardisten John Zorn wie von vergessener Club- und Popmusik aus der Myspace-Ära. Der «Popcast» der «New York Times» fragte, ob mit 100 Gecs vielleicht gar ein neues Zeitalter des Pop beginnen könnte – weil in ihrer Musik ein altes Versprechen des Internets aufblitzt, nämlich Quelle überbordender, anarchischer Kreativität zu sein.
Irre Abzweigungen
Nun also das zweite Album, «10,000 Gecs», das mit stark aufgebessertem Budget von einem Majorlabel und mit einiger Verspätung erschien. 100 Gecs bleiben sich in vielem treu, das Album ist unwesentlich länger als das erste, ebenso lustig und süss und zu Absurditäten und irren Abzweigungen aufgelegt. Es ist insgesamt weniger vertrackt, und man hört darauf mehr unbearbeitete Stimmen und analoge Instrumente. Das Duo hat den Nine-Inch-Nails-Schlagzeuger Josh Freese engagiert, Les spielt Gitarre. Auch das Referenzsystem hat sich verschoben, vieles auf diesem Album erinnert an die Zeit von MTV und an verschiedene Spielarten damals populärer Crossovers: Nu Metal, Rap-Rock, Funk Rock und eben Ska-Punk.
Wer ein bisschen älter ist als Brady (29) und Les (28), hat sich in seiner Jugend vielleicht durch die Musik von Bands wie Limp Bizkit und Sum 41 gehört – und diese Musik dann für immer hinter sich gelassen. Jetzt wieder dorthin, ist das Nostalgie? Oder Ironie? Beides falsch.
Nichts daran wirkt distanziert, wenn die beiden sich etwa in «Hollywood Baby» emphatisch in diesen sehr eingängigen Pop-Punk werfen. Die nasale Stimme und die Melodieführung haben etwas von Blink 182, aber wenn die trans Frau Laura Les das singt, in einer Poesie des höheren Trash («Do you wanna party? Malibu Barbie»), fällt auch auf, was für eine Bubenparty das damals war. Die Liebe fürs Material ist trotzdem unüberhörbar, aber ausgelebt wird sie in einem völlig anderen Koordinatensystem. Man hört das auch daran, wie das Album produziert ist: Die klischeehaften Details der Gitarre betonen sie genüsslich, das Schlagzeug ist überfett, ans scherbelnde Limit komprimiert, auf dem schlicht grossartigen Refrain selbstverständliches Autotune.
Frosch auf dem Boden
In «Billy Knows Jamie» schicken 100 Gecs die zähflüssige Aggression von Korn durch ihren Filter, in «The Most Wanted Person in the United States» den völlig bekifften Groove von Cypress Hill. Letztere Assoziation ist unausweichlich, ist da doch dieser hohe Ton wie in deren Song «Insane in the Membrane», den 100 Gecs nun aber mit einem ganzen Sammelsurium ähnlicher Soundeffekte garnieren. Denn die beiden interessieren sich weniger dafür, den Sound einer Zeit zu simulieren, sondern für die spezifische Wirkung einzelner Gesten, Klänge, Riffs, Melodieteile. Die Musikgeschichte, so scheint es, ist für sie eine ungeheure Ansammlung von Mikromomenten – Stoff für akustische Memes.
Natürlich spielen 100 Gecs dabei auch mit Bewertungen. «Mein ganzes Leben lang haben mir die Leute gesagt, dass Ska schlechte Musik sei», sagt Brady. In «Frog on the Floor», ein Ska-Song über, na ja, einen Frosch auf dem Boden, treiben sie das Spiel auf die Spitze. Und wenn im letzten und vielleicht besten Song des Albums, «mememe» (im Titel eine clevere Verbindung von Egozentrik und Weinerlichkeit), die Ska-Gitarre so elegant über den Beat hüpft, würde man sie glatt vermissen, wenn sie nicht mehr da wäre.
100 Gecs: «10,000 Gecs». Dog Show / Atlantic. 2023.