Umweltaktivismus: Protest mit Rosenkranz und Schweissbrenner

Nr. 46 –

Um den Bau der Dakota Access Pipeline zu verhindern, hat Jessica Reznicek Baumaschinen angezündet und Rohrstücke aufgetrennt. Wie kam die christliche Aktivistin dazu?

Jessica Reznicek wurde wegen «Verschwörung zur Beschädigung einer Energieanlage» und «böswilliger Verwendung von Feuer» zu acht Jahren Haft verurteilt.

Am Stadtrand von Des Moines, der Hauptstadt von Iowa im Mittleren Westen der USA, wo teils heruntergekommene Reihenhäuser die anonymen Hochbauten ablösen, befindet sich ein unscheinbares zweistöckiges Haus mit Veranda und verwildertem Garten. Hier ist der Ort, an dem alles begann.

Jessica Reznicek sitzt vor einer Wand, die von Plakaten und Zeitungsausschnitten überdeckt ist. Hinter ihr hängt ein Banner mit der Aufschrift «We are here to protect. Water is life» (Wir sind hier, um zu schützen. Wasser ist Leben). Wegen ihrer Aktionen für sauberes Wasser wird die Vierzigjährige die nächsten acht Jahre im Gefängnis verbringen.

Noch bleibt ihr eine Woche. Es ist Anfang August, wegen der Feuer in Kanada und an der US-Westküste ist die Luftqualität so schlecht, dass die Stadtregierung die Bewohner:innen dazu aufruft, an diesem Tag im Haus zu bleiben. Für Reznicek so weit nichts Neues: Sie steht bereits seit einem Jahr unter Hausarrest und darf ihr Zuhause nur unter bestimmten Bedingungen verlassen.

Denn aus Sicht der Justiz ist Jessica Reznicek eine «domestic terrorist», eine inländische Terroristin. Für andere wiederum ist sie eine «water protector», eine Wasserschützerin, die bereit war, ihre Freiheit für diesen Kampf zu riskieren.

Nach dem bürgerlichen Leben

«Die globale Erwärmung und der Ausbau der fossilen Brennstoffindustrie, die völlig ausser Kontrolle geraten ist und buchstäblich den ganzen Planeten verbrennt, sind eine offensichtliche Gefahr», sagt Reznicek. «Ich beobachte seit zwei Jahrzehnten, wie die Industrie Gemeinde um Gemeinde an sich reisst. Wie sie langsam alles, was mit meiner Geschichte und meiner Zukunft und der Zukunft der Kinder in meinem Leben zu tun hat, wegnimmt.» Sie ist in Douglas County, Illinois, in engem Kontakt mit der Natur aufgewachsen. Doch die Flüsse, in denen sie als Kind noch sorglos schwamm, seien heute mit den Abfällen der Agrarindustrie verunreinigt.

Die Aktivistin spricht mit klarer, lauter Stimme und bricht, trotz der zumeist schweren Themen, immer wieder in Lachen aus. Obwohl sie nicht gerne im Rampenlicht steht und Journalist:innen meidet, erzählt sie ihre Geschichte in lebendigen Worten – die Geschichte einer fieberhaften Suche nach Widerstandsformen, die wirklich etwas zu ändern vermögen. Von turbulenten Entschlüssen, Sabotageakten – und vom FBI.

Die Geschichte beginnt vor zehn Jahren, als die damals dreissigjährige Politikstudentin Jessica Reznicek ihr bürgerliches Leben hinter sich lässt, um an der Besetzung «Occupy Wall Street» in New York teilzunehmen – trotz der Drohung ihres damaligen Ehemannes, dass dies das Ende ihrer Beziehung bedeute. Bei den Protesten gegen die Auswirkungen der Finanzkrise und gegen soziale Ungleichheit lernt sie die Bewegung Catholic Worker kennen.

So gelangt die junge Aktivistin zum Kollektivhaus mit der Veranda in Des Moines, das für die nächsten zehn Jahre ihre Basis wird. Die Catholic-Worker-Bewegung ist eine Gemeinschaft, die aus weltweit etwa 200 – davon circa 100 in den USA – autonom agierenden «Häusern der Gastfreundschaft» besteht; in Anlehnung an die Bergpredigt wird in diesen Kontemplation, Selbstorganisation und gewaltfreie Aktion gemeinsam gelebt.

Christentum und Anarchismus – gelebt in radikaler Herrschaftskritik, dem Streben nach Gewaltfreiheit und Befreiung aus unterdrückerischen Verhältnissen – treffen hier in Des Moines aufeinander. Es ist ein Ort, an dem die christliche Botschaft von sozialer Gerechtigkeit und Solidarität mit den Marginalisierten zur Praxis wird.

Für Reznicek beginnt in Des Moines das, was sie heute als «Konversion» bezeichnet: Sie findet zum christlichen Glauben und zurück zu ihren katholischen Wurzeln. Durch ihre Erfahrungen in der Gemeinschaft ändert sich ihre Einstellung, sie baut ihre Vorurteile gegenüber Religiosität zunehmend ab. Und: Sie will sich von nun an radikaler gegen Ungerechtigkeiten einsetzen.

«Jesus war sehr politisch», sagt Reznicek. «Er war ein Revolutionär. Ein Mensch, der alle Autoritäten herausforderte und bereit war, sein Leben für das zu geben, was er liebte. Die Bibel durch diese Brille zu lesen, hat mich in meiner Widerstandsarbeit sehr motiviert.»

Von Palästina zu den Zapatistas

Für die christliche Aktivistin beginnt in der Gemeinschaft von Des Moines eine rastlose Suche nach ihrem Platz in und nach der Art und Weise ihres Einsatzes für diese Welt. Als Teil einer Friedensorganisation fliegt sie zweimal nach Israel, wo sie aufgrund ihres Protests in Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung abgeschoben wird. Sie besucht die Zapatistas in Mexiko und verbringt Zeit bei der indigenen Bevölkerung Guatemalas.

Zwischendurch kehrt sie immer wieder zurück zur Catholic-Worker-Gemeinschaft, zurück nach Des Moines. Dort lebt sie zusammen mit anderen Aktivist:innen, Organisator:innen von Black Lives Matter oder Menschen, die auf der Suche nach einem Zuhause dort aufgenommen worden sind. Die Gemeinschaft lebt in «freiwilliger Armut» und finanziert sich über private Spenden und Gelegenheitsjobs ihrer Mitglieder. Die meisten haben einen Bezug zum Christentum, manche bezeichnen sich als katholisch. Aber auch Menschen, die nicht glauben oder anders glauben, schliessen sich der Bewegung an.

Im Wohnkollektiv wird täglich Essen für diejenigen serviert, die kein Zuhause haben oder auf der Suche nach Gemeinschaft sind. Es ist ein Treffpunkt für jene, die am Rand der Gesellschaft leben: Obdachlose, Illegalisierte, trans Personen, ehemalige Gefängnisinsass:innen. An einem besonders heissen Tag Ende Juli hat Jessica Reznicek ihre letzte Kochschicht. Vor ihr steht ein riesiger Topf mit Kartoffelstock auf dem Herd, in den sie grosszügig Butter gibt. «Unsere Gäste lieben Butter», sagt sie lachend. Auf dem Fenstersims vor ihr steht eine Bischofsstatue mit umgehängtem Rosenkranz. «Ich mag die Tage, an denen ich für die Küche verantwortlich bin», sagt sie, während sie beginnt, den Berg an Geschirr abzuspülen. «Das lenkt mich von all den Dingen ab, die bei mir los sind.»

Einen Monat zuvor, am 28. Juni, hat das Gericht von Des Moines die christliche Aktivistin wegen «Verschwörung zur Beschädigung einer Energieproduktionsanlage» und «böswilliger Verwendung von Feuer» zu einer Gefängnisstrafe von acht Jahren verurteilt. Hinzu kommen drei Jahre Bewährung und eine Schadensersatzzahlung von 3 198 512,70 US-Dollar an den Konzern Energy Transfer. Die Taten wurden als «inländischer Terrorismus» kategorisiert, was das Strafmass erheblich erhöhte.

Mit allen Mitteln gegen die Pipeline

Inzwischen ist es fünf Jahre her, seit Jessica Reznicek zum ersten Mal von Energy Transfer gehört hat. Damals, im Jahr 2016, begann sich der Protest der Standing Rock Native Americans gegen die von dem Energiekonzern gebaute Dakota Access Pipeline zu formieren. Die Pipeline transportiert Rohöl aus dem nördlichen US-Bundesstaat North Dakota nach Patoka, einem Pipelineknotenpunkt in Illinois.

Die dort lebenden Sioux kämpfen seitdem gegen die Pipeline, die in der Nähe ihres Reservats verläuft und eine grosse Gefahr für ihre Wasserressourcen darstellt. Auch andere Gewässer sind gefährdet, da die Rohre der Pipeline an vielen Stellen unter Flüssen und Seen verlaufen, bei einem Unfall könnte das Trinkwasser verseucht werden. 2019 sind bei einem Leck in der Keystone-Pipeline, ebenfalls in North Dakota, rund eineinhalb Millionen Liter Rohöl ausgetreten.

In den Jahren 2016 und 2017 beteiligt sich Reznicek an verschiedenen Aktionen, um den Bau der 1890 Kilometer langen Pipeline zu verhindern. Kundgebungen, Protestlager, Unterschriftensammlungen. Nahe der Stadt Keokuk in Iowa, wo die Pipeline den Mississippi unterquert, errichtet sie eine Barrikade, um die Bauarbeiter an den Bohrarbeiten zu hindern. Über eine Woche hinweg wird sie von der Polizei verhaftet und ins Gefängnis gebracht – nur um am darauffolgenden Tag weiter zu blockieren. Mehr und mehr Menschen schliessen sich der Aktion an. Doch die Bohrung zu verhindern, gelingt ihnen nicht. Als diese beginnt, greift Jessica Reznicek zu drastischeren Mitteln.

In der Wahlnacht vom 8.  November 2016, als Donald Trump zum Präsidenten der USA gewählt wird, zündet Reznicek zusammen mit der Mitangeklagten Ruby Montoya fünf Baumaschinen in Buena Vista County im Nordwesten Iowas an. «Als ich an diesem Abend nach Hause kam, war ich mir nicht sicher, ob das eine gute Art war, meine Energie zu nutzen», erinnert sie sich. Sie beginnt stattdessen, aus Protest zu fasten. Zwei Wochen lang dauert ihr Hungerstreik.

Doch sie glaubt, damit nicht genügend Druck aufzubauen. Als sie beobachtet, wie Bauarbeiter Pipelinerohrstücke zusammenschweissen, beschliesst sie, die Rohre wieder auseinanderzunehmen – ebenfalls mit einem Schweissgerät.

Über fünf Monate hinweg bekämpfen Reznicek und Montoya mit dieser Taktik den Bau der Dakota Access Pipeline. Dann findet das vom Energiekonzern angeheuerte private Sicherheitsunternehmen heraus, dass sämtliche Sabotageakte in Iowa auf die beiden christlichen Aktivistinnen zurückzuführen sind.

«Sie begannen, mich überallhin zu verfolgen», sagt Reznicek. «Diese psychologische Taktik hat mich mit der Zeit sehr zermürbt.» Reznicek und Montoya beschliessen, öffentlich zu bekennen, was sie getan haben.

Drei Monate später hämmert es um 4.30  Uhr morgens an die Tür des unscheinbaren Hauses mit der Veranda in Des Moines. «Ich rannte die Treppe hinunter und konnte etwa fünfzig FBI-Agenten mit grossen Waffen und Schutzwesten durchs Fenster sehen», erinnert sich Reznicek. «Ich hatte schreckliche Angst.» Als sie die Tür öffnet, stürmen die Beamten herein, werfen sie zu Boden. «Sie hielten mir eine riesige Pistole ins Gesicht und drückten mit einem Fuss auf meinen Hals.»

Ist Sachbeschädigung Gewalt?

Genau hier, vor der Wand mit dem «Water is life»-Banner, habe sich das zugetragen. Nicht nur vonseiten der Justiz, auch aus den eigenen Reihen erhält Reznicek Kritik für die Art und Weise ihrer Aktionen. Viele bezeichnen die Sachbeschädigungen als gewalttätig. Reznicek hingegen ist der Überzeugung, dass sie gewaltfrei agiert hat. «Interessanterweise denken die Leute nicht, dass ein Mann, der das Schweissgerät zum Bau einer Pipeline benutzt, die unser aller Leben bedroht, gewalttätig ist. Derweil höre ich jedoch oft, dass eine Frau, die ein Schweissgerät benutzt, um eine Pipeline zu demontieren, gewalttätig sei.»

Am 11. August, eineinhalb Monate nach dem Urteilsspruch, hat Jessica Reznicek ihre Haftstrafe im Frauengefängnis in Wascea, Minnesota, angetreten. Im Gefängnis will sie sich nun per Fernstudium zur Sozialarbeiterin weiterbilden. Um, wenn sie wieder draussen ist, Teil eines Netzwerks zu werden, das im Rahmen der «Defund the police»-Bewegung eine Alternative zum Notruf bei der Polizei anbieten will.

Vor zwei Wochen hat sich Reznicek erstmals seit der Inhaftierung an die Öffentlichkeit gewandt. In einem auf Twitter publizierten Brief gibt sie sich hoffnungsfroh und dankbar für die Unterstützung, die sie erhält. Gleichzeitig kämpfe sie mit Depressionen und sei manchmal immer noch schockiert darüber, wo sie sich befinde.