Care-Ökonomie: «Löhne von 1200 Franken, das geht nicht»

Nr. 25 –

In Schweizer Privathaushalten arbeiten oft Frauen aus Osteuropa zu Tiefstlöhnen als Pflegekräfte. Eine von ihnen hat nun ein Netzwerk gegründet, das sich für mehr Respekt und bessere Arbeitsbedingungen für migrantische Pflegerinnen einsetzt.

Pflege und Betreuung durch MigrantInnen, die hauptsächlich aus osteuropäischen Ländern stammen, boomen auch in der Schweiz. Die Arbeitsbedingungen dieser «Care-MigrantInnen» sind oft prekär, die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit verfliessen, und die Löhne liegen vielerorts weit unter dem Existenzminimum.

Die erfolgreiche Lohnklage der langjährigen polnischen 24-Stunden-Pflegerin Bozena Domanska gegen ihre ehemalige Arbeitgeberin, eine Basler Vermittlungsfirma, hat hohe Wellen geworfen und viele ihrer Kolleginnen – die weitaus meisten Care-MigrantInnen sind Frauen – bewegt, sich über ihre Rechte zu informieren und bessere Arbeitsbedingungen zu fordern. Am 13. Juni dieses Jahres gründete Bozena Domanska zusammen mit dem VPOD Basel das Netzwerk Respekt.

Fristlos gekündigt

Am gleichen Tag steht Bozena Domanska spätabends zusammen mit einer Kollegin vor einem Haus in einem Basler Villenviertel. Es regnet in Strömen. Sie wollen eine 24-Stunden-Pflegerin aus Osteuropa abholen, der an diesem Tag fristlos gekündigt wurde. Diese hatte sich bei ihrer Firma beklagt, weil ihr nicht der volle Lohn ausbezahlt worden war. Die Kündigung bedeutet in diesem Fall, dass die Pflegerin von einem Tag auf den andern kein Dach mehr über dem Kopf hat. Genau so war es Bozena Domanska ergangen, nachdem sie sich wegen unbezahlter Überstunden zur Wehr gesetzt hatte. Zwanzig Minuten sind vergangen, die beiden Frauen warten noch immer vor der Villa. «Wir wissen nicht, ob sie schon mit der Arbeit fertig ist, und sie ist auch nicht erreichbar, weil sie in ihrem Kellerzimmer keinen Handyempfang hat.» Nach einer guten halben Stunde kommt die nun stellenlose Privatpflegerin mit ihren Koffern aus dem Haus. Bozena Domanska bietet ihr an, vorübergehend bei ihr zu wohnen.

Domanska hat selbst jahrelang in der privaten Pflege gearbeitet, zuerst in Deutschland und später in der Schweiz. Sie hat mit ihrer Lohnklage vielen Frauen in ähnlichen Situationen Mut gemacht, sich bei einer Gewerkschaft zu melden und sich über ihre Rechte und Möglichkeiten zu informieren. «Wir privaten Pflegerinnen waren bisher untereinander schlecht vernetzt. Manche treffen sich zwar nach dem Kirchgang zu Kaffee und Kuchen und tauschen sich aus, aber es gibt auch Frauen, die am Sonntag arbeiten müssen.»

Für «Respekt» ist Domanska mit einem Teilzeitpensum bei der Gewerkschaft angestellt. Zudem arbeitet sie weiterhin in der privaten Pflege, aber nicht mehr als Live-in – wie man die 24-Stunden-Betreuung in Privathaushalten nennt –, sondern sie geht nun von Haus zu Haus, um pflegebedürftige Menschen zu betreuen.

Domanska sucht eher das Gespräch als die Konfrontation. Doch die arbeitsrechtlichen Bedingungen müssten klar eingehalten werden und die Arbeit die Wertschätzung erhalten, die sie verdiene, sagt sie.

Was ist eine AHV-Karte?

«Ich will nicht die ganze Branche schlechtmachen. Es gibt auch private Pflegerinnen, die gerecht entlöhnt werden. Aber Löhne von 1200 Franken, überrissene Abzüge für Kost und Logis, kaum Sozialleistungen: Das geht nicht.» Der Beruf habe viele schöne Seiten, besonders im zwischenmenschlichen Bereich. Aber trotzdem sei es das Minimum, dass der Respekt vor den hart arbeitenden Frauen gewahrt und die oft prekären Arbeitsbedingungen verbessert würden. «Wir hören so oft, in Polen seien 1200 Franken viel Geld. Das tut weh, es ist einfach falsch, denn die Preise in den neuen EU-Ländern sind mittlerweile auf europäischem Niveau.»

Die wichtigsten Ziele von «Respekt» sind laut Bozena Domanska, die vorwiegend aus Osteuropa stammenden privaten Pflegerinnen zu informieren und sie zu unterstützen. Wenn Domanska von Frauen hört, die Unterstützung brauchen, geht sie auch mal zu ihnen nach Hause, falls diese nicht an die sonntäglichen Treffen nach dem Gottesdienst kommen können. Die Frauen sprächen oft schlecht Deutsch, seien verunsichert in einem fremden Land und würden mitunter auch übers Ohr gehauen. «Kürzlich habe ich eine Frau gefragt, wo ihre AHV-Karte sei. Sie wusste nicht, was das ist, hat also schwarzgearbeitet im Glauben, sie sei legal angestellt.»

«Respekt» wird sich weiterhin für die Rechte der Care-Migrantinnen einsetzen und vor Gericht Präzedenzfälle schaffen. Zu den Forderungen gehört das Recht der privaten Pflegerinnen auf ein eigenes Sozialleben mit Freizeit, die sie ausser Haus verbringen können. Die Abrufbereitschaft der Live-in-Angestellten rund um die Uhr ist in vielen Fällen nicht bezahlt, obwohl die Care-Arbeiterinnen über diese Zeit nicht frei verfügen können. Zurzeit ist zu diesem Punkt eine Klage einer Berufskollegin von Bozena Domanska hängig. Weitere Prozesse sind geplant, bis sich die Arbeitsbedingungen der Care-Migrantinnen deutlich verbessert haben und ihre Löhne für ein würdiges Leben in der Schweiz ausreichen.

Es gibt also noch viel Arbeit für «Respekt», die vielen Rückmeldungen aus dem In- und Ausland stimmen Bozena Domanska zuversichtlich, dass solche Netzwerke auch in anderen Städten entstehen. Damit die an sich gute Idee, kranke und gebrechliche Menschen möglichst lange zu Hause wohnen zu lassen, nicht länger auf Kosten ausgebeuteter Angestellter geht.

www.respekt-vpod.ch

Eine Dokumentation über Care-Migrantinnen aus Osteuropa wird am Donnerstag, 20. Juni, um 20.05 Uhr auf SRF 1 ausgestrahlt.

Nachtrag vom 19. März 2015 : Care-Arbeit: Bahnbrechendes Urteil

Die ausländischen Care-ArbeiterInnen, die sich im gewerkschaftlichen Netzwerk Respekt@vpod organisiert haben, konnten vor dem basel-städtischen Zivilgericht einen wegweisenden Erfolg erzielen. Im Fall der polnischen Betreuerin Agata J. liegt erstmals ein Urteil vor, das eine verbindliche Regelung vorgibt, wie die 24-Stunden-Betreuungsarbeit in Haushalten entlöhnt werden soll. Demnach sind auch solche Anstellungen dem Arbeitsgesetz unterstellt, und die Rufbereitschaft rund um die Uhr muss entschädigt werden – im Fall der klagenden Betreuerin mit dem halben Stundenlohn.

Agata J. erhält für einen dreimonatigen Arbeitseinsatz eine Nachzahlung von rund 15 000 Franken. Laut Marianne Meyer, VPOD-Sekretärin in Basel, sollen demnächst sechs weitere Klagen eingereicht werden.

Adrian Riklin