Krawalle in den Niederlanden: Coronavirus ist das Streichholz
Erneut ziehen Proteste gegen die Coronamassnahmen Ausschreitungen nach sich. Was macht die Niederlande derzeit so leicht entflammbar?
Das Jahr endet, wie es begonnen hat, mit demselben Dreischritt: zuerst eine heftig geführte Kontroverse über die Coronapolitik der Regierung. Im Januar ging es um die nächtliche Ausgangssperre, nun um 2G und die Impfpflicht. Es folgen Proteste, die aus dem Ruder laufen. Und schliesslich nächtelange Ausschreitungen in verschiedenen Städten. Tatsächlich überschneiden sich die Krawalle mit den Coronademonstrationen eher zeitlich als inhaltlich. Doch in den internationalen Medien bekommen sie, wohl der Einfachheit halber, trotzdem das Label «covid riots». Was macht dieses Land, das für seinen kompromissorientierten Diskurs bekannt ist, in dieser Zeit so leicht entflammbar?
Das Städtchen Urk am Ijsselmeer ist einer der Orte, an dem es bei beiden Protestwellen zu Randalen kam. Im Januar ging sogar eine Covid-19-Teststrasse in Flammen auf. Bei der Einfahrt in die Gemeinde fällt ein Schild ins Auge, das präventive Leibesvisitationen ankündigt. Warum hier protestiert wird? «Wegen all dieser Regeln. Alles wird einem genommen!», klagt ein Mann mittleren Alters in einem Hafenrestaurant. Urk, strikt calvinistisch geprägt, hatte Ende November mit 32 Prozent die niedrigste Impfquote des Landes. 2005 stimmten hier 92 Prozent per Referendum gegen das EU-Grundgesetz. Im Frühjahr wurde dem Rechtspopulisten Thierry Baudet ein warmer Empfang bereitet, der Corona als ein Instrument der Elite darstellt.
Geke van der Sloot, eine bekannte Sängerin, die auf der ehemaligen Insel wohnt, erklärt: «Man vertraut hier den Autoritäten nicht. Wir wurden einst als rückständige Fischer bezeichnet. Das Inselgefühl und der Argwohn gegen den Staat sind hier stark.» Hinzu kämen die Religiosität, die zu Widerstand gegen Impfungen führe, und der Gemeinschaftssinn. «Da kann das Ganze schnell mal umschlagen.» Geke van der Sloot schrieb neulich das Protestlied «Weg met de 2G» (Weg mit 2G), das sich wie ein Lauffeuer in Urk verbreitete. Die erste Zeile lautet: «Hier wird diskriminiert, denn ich bin nicht geimpft.»
Nihilistisches Ritual
Doch nicht nur in der calvinistischen Fischergemeinde lebt der Protest. An der aus dem Ruder gelaufenen Anti-2G-Demonstration in Rotterdam Ende November waren Dockarbeiter beteiligt, an mehreren Orten mischten Hooligans mit, und bei den Randalen in verschiedenen Städten beteiligten sich immer wieder auch Kinder migrantischer Familien aus armen Vierteln.
Wie im Januar wirken die Ausschreitungen freilich eher nihilistisch und mehr einem aktionistischen Ritual folgend als einer inhaltlichen Agenda. Doch aus heiterem Himmel kommen sie deshalb noch lange nicht. Sie sind Ausdruck einer sozialen Krise, die mit Vereinzelung und Desintegration einhergeht. Und mit der Ethnisierung der alten sozialdemokratischen Milieus nach dem Muster: Alteingesessene Weisse biegen zu den Rechtspopulist:innen ab, Einwander:innen und ihre Nachkommen entscheiden sich für vermeintliche «Migrantenparteien». In diesem Land gehören 220 000 Menschen zu den Working Poor, es herrscht ein struktureller Mangel an 300 000 Wohnungen, und während Vermögende sich im Rennen um Immobilien ganz selbstverständlich mit den Preisen überbieten, können sich immer mehr Menschen keine Mietwohnung im freien Sektor leisten.
Sind die Krawalle demnach ein reflexhafter Aufschrei der Abgehängten? Der Publizist Joris Luyendijk, dessen neues Buch «De zeven vinkjes» (Die sieben Häkchen) sich mit der Verteilung von Privilegien in den Niederlanden befasst, differenziert: «Dies ist kein Aufstand der Unterprivilegierten, denn 99,9 Prozent der Unterprivilegierten in den Niederlanden beteiligen sich nicht daran. Aber ich denke, dass es mit dem Mangel an Glaubwürdigkeit der politischen Elite zu tun hat, die sehr einseitig zusammengestellt ist. Mit ihren festen Gehältern ist sie weit weg vom Schmerz in dieser Gesellschaft, über die sie zugleich entscheidet.»
Luyendijks Kritik verweist auf die Rolle der Regierung, die von einer permanenten politischen Krise geprägt ist. Im Januar trat die Mitte-rechts-Koalition von Mark Rutte zurück. Die Regierungsgespräche seit den Wahlen im März verlaufen träge. Die anstehende Neuauflage der zerstrittenen Vier-Parteien-Koalition hat kaum Rückhalt, aber noch weniger Alternativen. Der Umfrage eines Meinungsforschungsinstituts im September zufolge haben sechzig Prozent der Befragten wenig bis sehr wenig Vertrauen in die niederländische Politik. Nicht zuletzt hängt der sogenannte Kinderzuschlagsskandal seit Ende 2020 der Regierung nach: Mehr als 20 000 vor allem migrantische Eltern wurden fälschlicherweise des Sozialbetrugs beschuldigt und mit horrenden Rückzahlungsforderungen in den Ruin getrieben.
Radikal neoliberal
Für den Kolumnisten Zihni Özdil, ehemaliger Grünenabgeordneter, ist dieser Kontext entscheidend bei der Analyse der jüngsten Unruhen. «Die Niederlande sind das radikalste neoliberale Land Westeuropas. Nicht einmal Margaret Thatcher ging so weit, die Krankenkassen zu privatisieren, was hier 2006 geschah. Und in keinem anderen westeuropäischen Land gibt es so viele Zeitarbeitsverträge wie in den Niederlanden. Die Lockdowns und Beschränkungen, die die ärmsten Teile der Bevölkerung am härtesten getroffen haben, beschleunigen einen Prozess, der sich schon länger vollzog. In diesem Sinn war Corona das Streichholz, das die neoliberale Hölle der Niederlande in Brand gesteckt hat.»
In diesem politischen Klima hat die Sozialdemokratie in den Niederlanden noch heftiger abgewirtschaftet als in anderen Ländern Europas. Die Antwort auf die Krisen der 2010er Jahre lautete stets: noch mehr Austerität, noch eine Legislaturperiode für die marktliberale VVD von Premier Rutte. Ein Muster, das sich selbst in der fortgeschrittenen Covid-19-Krise wiederholt. Die beklemmende Konsequenz: Die beiden gesellschaftlichen Kräfte, die sich in diesem Land gegenüberstehen, sind ein neoliberaler Mainstream und ein zunehmend rabiater Anti-Eliten-Reflex, der vage mit den sozialen Schieflagen verbunden, aber deshalb noch lange nicht emanzipatorisch ist. Denn gerade sein amorpher Charakter macht ihn für unterschiedliche Gruppen anschlussfähig.
Dazu beigetragen hat der in den letzten Jahren stets präsente Aufruf, «Widerstand zu leisten», mit dem etwa die rechtspopulistische Freiheitspartei gegen die Aufnahme von Geflüchteten polemisierte. Später vernahm man ihn von Gelbwesten und auf Bäuer:innendemonstrationen. Parallel dazu wurden Bedrohung und Einschüchterung zu einem immer gängigeren Mittel des politischen Diskurses. Bisheriger Tiefpunkt war zuletzt eine Wortmeldung von Pepijn van Houwelingen, Abgeordneter des identitären Forum voor Democratie: In einer Parlamentsdebatte zur Impfpflicht bescheinigte er seinem liberalen Kollegen Sjoerd Sjoerdsma: «Ihre Zeit kommt noch. Es wird Tribunale geben.»