Bergkarabach: Der grosse Exodus
Nach dem Waffenstillstand muss Armenien zahlreiche Gebiete an Aserbaidschan abtreten. Besonders betroffen ist die Zivilbevölkerung: Zehntausende haben ihre Häuser verlassen, in Armenien erwartet sie eine ungewisse Zukunft.
Die Eltern der vermissten Soldaten haben nur noch eine Hoffnung. «Wir bitten Dich um Erhörung, flehen Dich an und verneigen uns vor Dir, Wladimir Putin», so beginnt ihr Brief an den russischen Präsidenten. Etwa 300 Mütter und Väter sind in der vergangenen Woche vor der russischen Botschaft in Armeniens Hauptstadt Eriwan zusammengekommen, um von dort Hilfe zu erbitten. Die Bilder ihrer Söhne halten sie hoch in den Himmel, wie die armenischen Fernsehsender zeigen.
Von ihrer eigenen Regierung erwarten die DemonstrantInnen in Eriwan nichts mehr. Trotz tagelanger Proteste vor dem Gebäude der armenischen Regierung haben sie keinerlei Auskunft bekommen, ob ihre Söhne tot oder noch am Leben sind. Die Behörden machen keine Angaben zu vermissten oder gefangenen Soldaten.
Am 27. September war der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach ausgebrochen, sechs Wochen später kam es unter russischer Vermittlung zu einem Waffenstillstand. Laut der Vereinbarung verliert Armenien bis zum 1. Dezember die Kontrolle über alle sieben Regionen, die Bergkarabach umgeben. Davon ausgenommen ist der «Latschin-Korridor»: Auf einer Breite von fünf Kilometern verbindet er Armenien mit Bergkarabach. Auch einige Landstriche in Bergkarabach fallen an Aserbaidschan. Russische Friedenstruppen sollen die Umsetzung dieser Vereinbarung absichern.
Ein letzter Korridor
Mariam Sargsyan könnte sich freuen, dass ihr Mann lebend aus dem Krieg zurückgekehrt ist. «Doch wenn ich meine verwitweten Freundinnen mit ihren Kleinkindern sehe, dann bleibt mir mein Glück im Hals stecken», sagt die 26-Jährige in einem Telefongespräch.
Seit dem Beginn der Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach sind laut neuen offiziellen Angaben wesentlich mehr Menschen ums Leben gekommen, als bisher bekannt war. Die armenische Seite hat 2660 Opfer bestätigt. Inoffiziell ist von doppelt so vielen Opfern die Rede. Aserbaidschan nennt bislang keine Zahlen gefallener Soldaten.
In der Sowjetunion war Bergkarabach der Teilrepublik Aserbaidschan zugeordnet. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entbrannte ein Territorialkonflikt, der nunmehr seit dreissig Jahren schwelt. Anfang der neunziger Jahre brach ein Krieg aus, in dem unterschiedlichen Schätzungen zufolge zwischen 25 000 und 50 000 Menschen getötet und über eine Million vertrieben wurden. 1994 mündete er in einen brüchigen Waffenstillstand. Am 27. September dieses Jahres zerbrach dieser endgültig.
Nun sollen russische Truppen den Frieden sichern. In Bergkarabach haben Panzer mit aufgepflanzten russischen Flaggen Position bezogen. «Es ist seltsam, dass nun Fremde unsere Sicherheit schützen», sagt Mariam Sargsyan. Auch wenn ihre Grossmutter selbst aus Russland stammte, begrüsst sie den russischen Einsatz nicht uneingeschränkt. «Die Russen hätten uns während des Krieges helfen können, aber das haben sie nicht getan», erklärt sie. «Und deswegen haben wir auch diesen Krieg verloren».
Tradition unter Beschuss
Mariam Sargsyan und ihr Mann Hovik Hovsepyan verbindet mit dem Krieg eine ganz eigene Geschichte: Sie haben mitten in den Gefechtswirren geheiratet. Mariam und Hovik kennen sich schon seit der Kindheit. Sie besuchten die gleiche Schule in Martuni, einer Kleinstadt in Bergkarabach. Vor dem Krieg arbeitete Mariam als Pressesprecherin im Gerichtsamt, ihr Partner koordinierte Kulturprogramme. Als der Krieg ausbrach, meldete sich Hovik als Freiwilliger zu den Waffen.
Am 24. Oktober heirateten die beiden in der zertrümmerten Kathedrale von Schuschi, während aserbaidschanische Kampfdrohnen kreisten. Die Kathedrale aus dem 19. Jahrhundert war im Verlauf des Oktobers zweimal unter Beschuss gekommen. In Armenien, einer der ältesten christlichen Nationen, löste dies eine besondere Betroffenheit aus. Mit seiner Hochzeit wollte das Paar die armenischen Freiwilligen ermutigen. «Wir wollten ein Zeichen setzen, dass wir weiterleben werden und immer noch für unsere Traditionen stehen, auch wenn sie uns unter Beschuss nehmen.» Die Bilder von der Hochzeit in der von Artilleriegeschossen zerstörten Kathedrale fanden breite Beachtung.
Auf die Einnahme von Schuschi folgte das Waffenstillstandsabkommen. Die Stadt hoch oben in den Bergen heisst jetzt in aserbaidschanischer Sprache «Schuscha». Mariam und Hovik haben damit auch ihre Wohnung verloren, die sie drei Tage vor Ausbruch des Krieges für rund 25 000 Dollar gekauft hatten.
Häuser niedergebrannt
In Bergkarabach lebten vor dem Ausbruch der jüngsten Kämpfe Ende September etwa 150 000 Menschen. Die grosse Mehrheit von ihnen, vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, sind nach Armenien geflohen. Hinzu kommen die Menschen, die nun die Gebiete um Bergkarabach verlassen, die Armenien an Aserbaidschan abtreten muss.
Videos in den sozialen Medien dokumentieren, wie die fliehenden Menschen alles aus ihren Häusern mitnehmen, was sie nur irgendwie tragen oder transportieren können. Auf den völlig überladenen Gepäckträgern von Autos sind Teppiche, Kühlschränke, sogar ein Bienenstock zu sehen. Hirten führen Kuh- und Schafherden nach Armenien, zu Fuss und durch die Berge. Viele EinwohnerInnen brennen ihre Häuser nieder.
Aus Armenien wiederum eilen einige in die waldreiche Region Kalbajar und holzen sie ab. Aufnahmen zeigen, wie sie Holz nach Armenien fahren. Auf den Wald nehmen sie keine Rücksicht, weil dieser jetzt dem Feind gehöre, wie es heisst.
In Armenien angekommen, sind die Geflüchteten auf sich alleine gestellt. Tausende haben keine eigene Unterkunft, übernachten bei Freunden und Bekannten, in Hotels, in Sportstätten und alten Containern. Die Menschenrechtlerin Zaruhi Hovhannisyan ist ob der Situation der Flüchtlinge aus Bergkarabach und den an Aserbaidschan abzutretenden Gebieten alarmiert. «Es gibt keine konkreten staatlichen Massnahmen, die Regierung ist einfach unfähig, Lösungen zu finden. Die Geflüchteten bleiben auf die Hilfe von Freiwilligen angewiesen», berichtet sie. Hovhannisyan sammelt selbst Bettwäsche und Decken.
Auch wenn sie eine erste Bleibe gefunden haben, droht vielen Geflüchteten in Armenien die Obdachlosigkeit: «Ich erhalte viele Anrufe von Geflüchteten aus Hotels. Sie sind aufgefordert, die Gasthäuser bald zu verlassen. Für die meisten ist es unmöglich, irgendwo eine Wohnung oder ein Haus zu mieten», sagt die Menschenrechtlerin.
Schmerzhafte Realität
In Armenien herrscht noch immer ein politisches Chaos. Die Oppositionsparteien fordern den Rücktritt von Premierminister Nikol Paschinyan, der mit dem Waffenstillstandsabkommen über Nacht zum Ziel von Hass und bitteren Vorwürfen geworden ist. Er sei ein «Volksverräter». Um den öffentlichen Druck zu lindern, hat Paschinyan MinisterInnen ausgewechselt.
Mariam Sargsyan und Hovik Hovsepyan dürfen sich derweil Hoffnung machen, zumindest ein wenig. Sie sind in ihre Geburtsstadt Martuni zurückgekehrt, die weiterhin armenisch bleiben wird. Doch fünf umliegende Dörfer gehen unter aserbaidschanische Kontrolle. Mariam berichtet, dass in Martuni überall die Spuren von Granateinschlägen zu sehen sind: Einem Haus fehlt das Dach, bei einem anderen sind es Fenster oder gleich eine ganze Wand. Es gibt kein Gas, kein Strom und kein Wasser. «Wir leben wie in den neunziger Jahren, als der erste Krieg um Bergkarabach ausbrach», sagt sie. «Wir kochen auf einem Holzofen und wärmen uns an ihm. Zum Duschen gehen wir zu Freunden in ein nahes Dorf.»
Insgesamt sind in den vergangenen Tagen mehr als 14 000 Menschen unter den Augen russischer Friedenstruppen in ihre Häuser in Bergkarabach zurückgekehrt. Mariam sagt, die Stadt erwache zu neuem Leben, in ihrem Wohnbezirk seien bereits drei Familien zurückgekehrt. Nur einige Hundert Meter von der Siedlung entfernt patrouillieren jetzt aserbaidschanische Truppen. «Sie werden nun immer so nah sein», sagt Mariam.
Ob sie sich eine friedliche Zukunft vorstellen kann? «Es gibt viel Hass zwischen Armeniern und Aserbaidschanern», sagt sie. «Die Regierungen auf beiden Seiten haben uns in den vergangenen dreissig Jahren leider nicht auf ein Zusammenleben vorbereitet.» Einer Sache ist sie sich aber sicher. «Die Niederlage muss akzeptiert werden, egal wie schmerzhaft diese Realität auch ist.» Mariam und Hovik haben sich entschieden. Sie werden bleiben, ihre Heimat Bergkarabach nicht verlassen. «Wir haben unsere Freunde beerdigt, doch wir sind am Leben», sagt Mariam. «Nun fangen wir wieder von vorne an.»