Brennpunkt Südkaukasus: Kein Grund zur Zuversicht
Seit einem Jahr gilt im Konflikt um Bergkarabach ein Waffenstillstandsabkommen, doch ein Friedensvertrag ist nicht absehbar. Vor wenigen Wochen kam es wieder zu heftigen Kämpfen.
Der Krieg um Bergkarabach im Herbst vor einem Jahr endete am 9. November 2020 mit dem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen. Expert:innen gehen davon aus, dass das Abkommen eine vollständige Vertreibung der Armenier:innen aus Karabach verhinderte. «Russland übte offensichtlich Druck auf Aserbaidschan aus, seine Militärkampagne zu beenden», erklärt Thomas de Waal, Kaukasus- und Osteuropaexperte der Forschungsplattform Carnegie Europe. Die Aserbaidschaner:innen hätten die Kampagne aber auch aus eigenen Interessen beendet: «Sie hatten ihr Hauptziel erreicht, die Stadt Schuscha zu erobern. Hätten sie auch Stepanakert, die Hauptstadt der Region Bergkarabach, angegriffen, hätte die Gefahr eines noch viel grösseren Blutvergiessens und einer Eskalation bestanden, da Armenien immer noch Langstreckenraketen zur Verfügung standen.» Doch auch so wurden in diesem Krieg offiziell über 6900 Soldaten und 188 Zivilist:innen getötet.
Aserbaidschan kontrolliert nun wieder 7300 der einst 11 000 Quadratkilometer, die die Armenier:innen während 27 Jahren besetzt hielten. Während des Kriegs flüchteten 90 000 Armenier:innen aus Bergkarabach und 40 000 Aserbaidschaner:innen aus Gebieten nahe der Front. Im März dieses Jahres lebten noch rund 66 000 Geflüchtete aus Bergkarabach in Armenien.
Komplizierte Gemengelage
Die regionalpolitischen Interessen des Iran, der Türkei und Russlands machen den armenisch-aserbaidschanischen Konflikt überaus kompliziert. Anfang Oktober erst fand eine iranische Militärübung an der Grenze zu Aserbaidschan statt – im Norden des Irans leben Millionen von ethnischen Aserbaidschaner:innen. Der Iran, seit Jahrzehnten ein wichtiger Handelspartner Armeniens, missbilligt israelische Waffenlieferungen an Aserbaidschan und befürchtet eine israelische Präsenz im Nachbarland. Auch Waffen aus türkischer Produktion wurden nach Aserbaidschan geliefert; die beiden Länder haben mehrfach gemeinsame Truppenmanöver abgehalten. Russland ist derweil im Rahmen eines Militärabkommens Armeniens Sicherheitsgarant.
«Russland und die Türkei konkurrieren um Einfluss in Aserbaidschan, wobei die Türkei ihre Position als wichtigster Verbündeter von Baku deutlich gestärkt hat», sagt de Waal. Andererseits hätten Russland und die Türkei ein gemeinsames Interesse daran, westliche Akteure in der Region marginalisiert zu halten. «Und Aserbaidschan, die Türkei und Russland haben ein gemeinsames Interesse daran, eine Transportroute über das Kaspische Meer und entlang des Flusses Aras zu erschliessen. Der Iran kann auch wirtschaftliche Vorteile aus der Wiedereröffnung von Verkehrswegen ziehen, ist aber über die neue starke Achse Aserbaidschan–Türkei besorgt und versucht daher, Armenien so gut wie möglich zu stärken.»
Nach de Waals Einschätzung wird es in absehbarer Zeit – wie schon beim Waffenstillstandsabkommen nach dem ersten Krieg in den neunziger Jahren – auch diesmal kein Friedensabkommen geben. Das liege vor allem daran, dass die Kernfrage des Konflikts, der Status der Armenier:innen von Karabach, unlösbar bleibe. Der Krieg habe den Armenier:innen zwar die Hoffnung auf eine Abspaltung von Aserbaidschan genommen, ganz aufgeben würden sie wohl aber nicht, meint de Waal. «Heute ist nicht Eriwan, sondern Moskau der wichtigste Schutzpatron der Karabach-Armenier:innen.» Armenien ist das einzige Land im Südkaukasus, das Russland erlaubt, Soldaten in dieser Region zu stationieren. Zudem, so de Waal, gehe es Russland auch um Verkehrsverbindungen über Aserbaidschan und Armenien in den Iran und die Türkei, unter Umgehung Georgiens. «Um diese Ziele zu erreichen, müssen sie sich mit einigen hartnäckigen regionalen Akteuren und deren Interessen auseinandersetzen.»
Neue Krise im Jahre 2025?
Es sei sehr wahrscheinlich, dass es 2025, nach Ablauf des Waffenstillstandsabkommens, einen neuen kritischen Moment im Konflikt geben werde, hauptsächlich zwischen Baku und Moskau, glaubt de Waal: «Aserbaidschan wird versuchen, sein Vetorecht bei der Verlängerung der russischen Friedensmission zu nutzen. Russland wird bleiben wollen und nützliche Argumente dafür finden. Und sollten die Armenier:innen einen Abzug der russischen Friedenstruppen befürchten, könnten einige von ihnen in Erwägung ziehen, irreguläre bewaffnete Gruppen in Karabach einzusetzen.» Auch darum seien keine echten Friedensverhandlungen zu erwarten, «bis all diese Fragen im Jahr 2025 behandelt sind».
Dass dieser Konflikt nicht eingefroren ist, zeigten heftige Kämpfe am 16. November 2021 in der Region Gegharkunik/Kalbadschar, die erst durch russische Vermittlung gestoppt werden konnten. Gemäss dem armenischen Verteidigungsministerium sollen sechs armenische Soldaten getötet und achtzehn weitere gefangen genommen worden sein. Das armenische Aussenministerium geht davon aus, dass Aserbaidschan auf diese Weise Druck ausüben will – unter anderem für die Errichtung des Korridors nach Nachitschewan durch den Süden Armeniens.