Impfnachweis: «Unser Schutz hängt auch von anderen ab»

Nr. 11 –

Der Bundesrat schlägt Lockerungen nur für geimpfte Menschen vor. Viele befürchten nun eine Zweiklassengesellschaft. Doch der Impfnachweis lässt sich auch als Zwischenschritt zu mehr Grundrechten für alle begreifen.

Die Meldung über ein Popkonzert in Israel ging um die Welt. Zugelassen waren nur Menschen, die bereits vollständig gegen Covid-19 geimpft waren (siehe WOZ Nr. 10/2021 ). Nun will auch der Bundesrat für Geimpfte gewisse Massnahmen lockern: So sollen sowohl die Quarantänepflicht bei einem Kontakt mit erkrankten Menschen als auch die Maskenpflicht in Alters- und Pflegeheimen für geimpfte Menschen aufgehoben werden – sofern sich die epidemiologische Lage positiv entwickelt. Und auch viele VeranstalterInnen wünschen sich einen Impfpass, um im Sommer etwa Konzerte oder Festivals für Geimpfte durchführen zu können.

Doch eine solche Ungleichbehandlung wirft Fragen auf: Werden hier manche privilegiert und andere bestraft? Oder sind solche Lockerungen nicht viel mehr grundrechtlich gefordert? Droht eine Zweiklassengesellschaft? Dürfen Ungeimpfte etwa aus dem Restaurant ausgeschlossen werden?

Bereits im Februar hat die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) eine Stellungnahme zur ethischen Dimension einer allfälligen Ungleichbehandlung veröffentlicht. Ganz klar spricht sie sich dabei gegen ein allgemeines Impfobligatorium aus. «Ein solches griffe auf unverhältnismässige Weise in wesentliche Grundrechte und Freiheiten ein», erklärt Jean-Daniel Strub, interimistischer Leiter der Geschäftsstelle der NEK. Gemäss Epidemiengesetz wäre ein Impfobligatorium zwar partiell durchaus möglich: So kann der Bundesrat in der aktuellen Lage «Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären». Doch ist auch die Angst vor solchen Regelungen kaum berechtigt. Schon früh hat der Bundesrat jeglichen Impfobligatorien einen Korb erteilt. Zudem finden sich dafür nicht einmal ansatzweise Mehrheiten.

Nur mit Wenn und Aber

Komplizierter wird die Debatte bei den Massnahmenlockerungen für Geimpfte. Für die NEK sind solche nur unter mehreren Bedingungen ethisch gerechtfertigt. So müsse «nachgewiesen sein, dass die Impfung auch vor der Weitergabe des Virus schützt». Darüber hinaus müsse «gewährleistet sein, dass alle, die sich impfen lassen möchten, diese Möglichkeit auch bekommen werden» – wenn nicht jetzt, so doch in absehbarer Zeit. Und: Alle Regelungen, die sich auf einen Impfnachweis stützten, müssten befristet sein. «Impfnachweise sind aus ethischer Sicht nur zeitlich begrenzt zu legitimieren, während Lockerungsschritte unternommen werden oder um diese zu beschleunigen», sagt Strub.

Als Privilegierung der Geimpften sieht die NEK eine mögliche Ungleichbehandlung nicht. Es gehe beim Impfnachweis nicht darum, Menschen Privilegien in Form zusätzlicher Rechte zu verleihen. Vielmehr würden Einschränkungen grundlegender Rechte zurückgenommen, die sich nicht länger rechtfertigen liessen.

Gesetzliche Regelung nötig

Dürfte aber etwa ein Restaurant einen Impfnachweis verlangen? «Grundsätzlich gilt für Private die Vertragsfreiheit», erklärt Lorenz Langer, Professor für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Zürich. Doch diese sei nicht absolut – wie das Beispiel der «Swiss Covid»-App zeigt. Deren Nutzung ist völlig freiwillig, niemand darf zur Verwendung des appbasierten Tracingsystems gezwungen werden. «Auch private Unternehmen dürfen deshalb niemanden benachteiligen, der die App nicht nutzt.»

Beim Staat wiederum gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung. Lockert er also die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit im öffentlichen Raum – etwa für Wandergruppen oder Sport im Freien –, muss er dies prinzipiell für alle tun.

«Sachliche Gründe können aber auch hier eine Ungleichbehandlung rechtfertigen», sagt Langer. Dem Grundsatz der Gleichbehandlung stehe hier die Bewegungsfreiheit des Einzelnen gegenüber. «Wenn jemand nicht mehr infektiös ist und selbst nicht mehr angesteckt werden kann, lässt sich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit nur noch schwer rechtfertigen.» Mit diesem Argument lasse sich auch hier über eine Auflösung von Beschränkungen nur für Geimpfte nachdenken.

«Für die Einführung von Impfausweisen wäre eine gesetzliche Regelung nötig», sagt Langer. Der Bundesrat sieht das ähnlich und schrieb Anfang März, dass sowohl «für eine allfällige Einführung eines staatlichen Impfausweises oder einer staatlichen Zertifizierung des Impfausweises als auch für die Kontrolle des Impfstatus mittels Zugang zu einem Impfregister» eine formell-gesetzliche Grundlage notwendig wäre.

Gerade den Zugang zum Impfregister beurteilen DatenschützerInnen als heikel. Beim Impfstatus handelt es sich nämlich um besonders schützenswerte Personendaten. Gemäss ExpertInnen würde deren Offenlegung und Bearbeitung im Kino oder Restaurant ohne gesetzliche Regelung gegen das Datenschutzgesetz verstossen. Darüber hinaus sehen sie eine Gefahr in einer zentralen, digitalen Sammlung von Impfdaten.

Moralische Pflicht zur Impfung

Vieles hängt also von noch unbekannten Faktoren ab: Wie gut schützt die Impfung gegen die Weitergabe des Virus und allfälliger Mutanten? Und: Wie lange hält der Schutz an? Erste Studien aus Israel deuten darauf hin, dass eine Impfung auch andere schützt. Um die gesamte Bevölkerung – auch jene, die sich nicht impfen lassen können oder wollen – vor dem Virus zu schützen, braucht es eine Herdenimmunität. Die dafür benötigte Impfquote ist je nach Erreger unterschiedlich hoch. Bei den Masern müssen 19 von 20 Menschen geimpft sein. Bei Covid-19 ist die Quote noch unklar. Das deutsche Bundesgesundheitsministerium geht von 55 bis 65 Prozent aus. Die Kölner Infektiologin Clara Lehmann rechnet eher mit 80 bis 90 Prozent. Das Problem sei, dass man nicht genau wisse, wie infektiös das Virus und seine Mutanten seien.

Die Impfbereitschaft ist gemäss einer aktuellen Link-Umfrage in der Schweiz jedoch eher gering. Lediglich 56 Prozent der Erwachsenen wollen sich gegen Covid-19 impfen lassen, sobald dies möglich ist. Dabei wäre eine Impfung auch ein Akt der Solidarität, falls sie gegen die Weitergabe schützt. So argumentierte etwa die Philosophin Barbara Bleisch im «Tages-Anzeiger»: «Darin kommt die Einsicht zum Tragen, dass unser aller Wohl nur zu sichern ist, wenn auch alle, die können, ihr Scherflein beitragen.»

Ganz ähnlich sieht es die NEK. «Es gibt gute Gründe, eine moralische Pflicht zur Impfung geltend zu machen», sagt Strub. Denn die Solidarität untereinander sei bei der Bekämpfung der Pandemie zentral. «Die eigene Gesundheit und die eigene Freiheit können individuell nicht wirksam geschützt werden. Unser Schutz hängt auch vom Verhalten der anderen ab.» Solidarität bedeute darüber hinaus auch den Schutz von Personen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen könnten. Und Solidarität bedeute mit Blick auf den Impfnachweis eben auch, eine vorübergehende Ungleichbehandlung zu akzeptieren. Im Bewusstsein darüber, «dass nicht alle sofort geimpft werden und Einschränkungen nicht unmittelbar aufgehoben werden können».