Soziale Not in Brasilien: Der Hunger ist zurück

Nr. 49 –

Ein Jahr vor den Wahlen versinkt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise. Derweil plant der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro, die Stimmen der Armen zu kaufen. Wird es ihm gelingen?

«Ich bin sehr sparsam geworden»: Aline Conceição aus der Favela Campinho im Norden von Rio de Janeiro verkauft Bonbons und Kaugummis.

Als der Wecker von Aline Conceição um drei Uhr in der Früh klingelt, erhebt sie sich von der Matratze, auf der sie mit ihren beiden Töchtern und dem Sohn schläft. Sie geht ins winzige Bad ihres Häuschens, wäscht sich mit Wasser aus einem Eimer. Unterdessen kocht ihre älteste Tochter Kaffee und füllt ihn in Thermoskannen.

Es ist noch dunkel, als die 39-jährige Conceição die Metalltür zu einem Pfad aufstösst, der durch die Favela Campinho auf einem Hügel im Norden Rio de Janeiros führt. Beladen mit sechs Thermoskannen und Hunderten Tütchen mit Bonbons und Kaugummis, läuft sie das Armenviertel hinunter bis zu einer Busstation. Sie hofft, dass heute der Wächter am Drehkreuz steht, der sie immer ohne Ticket durchlässt.

Die Afrobrasilianerin fährt dann bis zur Endhaltestelle und baut ihr bescheidenes Warenangebot auf. «Um fünf Uhr beginne ich mit dem Verkauf», sagt Conceição, «täglich ausser sonntags.»

Sie arbeitet bis zur Mittagszeit, dann kommt ein anderer Händler, mit dem sie abgemacht hat, nicht in Konkurrenz zu treten. «An guten Tagen verdiene ich sechzig Reais», sagt Aline Conceição, das sind umgerechnet zehn Franken. «Aber meistens ist es weniger.» In all den Stunden, die sie an der Haltestelle steht, trinkt Conceição Kaffee und isst ein Brötchen mit Ei, das sie sich morgens gemacht hat. «Ich bin sehr sparsam geworden», sagt sie, «das Leben in Rio ist teuer geworden.»

Das Rückgrat der Gesellschaft

Conceição zählt zu den rund 35 Millionen Menschen, die im informellen Sektor Brasiliens arbeiten, also auf eigene Rechnung und ohne jede Absicherung. Sie verkaufen irgendetwas auf der Strasse oder bieten Dienstleistungen an, waschen etwa Autos. Die Informellen stellen rund vierzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung Brasiliens, sie bilden das Rückgrat der Gesellschaft, die ohne ihre Eigeninitiative zusammenbrechen würde. Dennoch sind sie arm.

Vor der Pandemie bedeutete dies, dass sie nie genug verdienten, um sozial aufzusteigen, sich aber immer über Wasser halten konnten. Das hat sich geändert. Brasilien erlebt eine tiefe Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit und Inflation. Sie hat Menschen wie Aline Conceição in Gefahr gebracht, sich nicht mehr ausreichend ernähren zu können. Ihnen drohen Hunger und Mangelernährung. Diese Gefahr ist umso grösser für die rund 14 Millionen Brasilianer:innen, die offiziell arbeitslos gemeldet sind, eine Quote von dreizehn Prozent.

2014 galt der Hunger in Brasilien als besiegt, damals strich die Welternährungsorganisation (FAO) das Land von der Welthungerkarte. Jetzt ist er mit voller Wucht zurück. Seit fünf Jahren beobachten Expert:innen bereits eine Zunahme des Problems, das sich mit der Pandemie potenziert hat. Laut dem brasilianischem Forschungsnetzwerk für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit, Rede Penssan, waren Ende 2020 mehr als 116 Millionen Brasilianer:innen von Ernährungsunsicherheit betroffen. Mehr als die Hälfte von ihnen ass nicht mehr ausreichend oder hungerte bereits.

Dies ist überall im Land zu spüren. Nicht nur in den Favelas und verarmten ländlichen Zonen, sondern gerade in den Zentren der Städte. Dort stehen täglich Tausende für kostenlose Mittagessen an, und immer mehr Obdachlose errichten auf den Gehsteigen ihre Quartiere. Durch die Busse und Vorortzüge zieht ein Heer ambulanter Händler:innen, die alles möglich feilbieten: Kopfhörer, Schokolade, Cremes, nicht selten Hehlerware.

Immer mehr Menschen sind auch gezwungen, irgendetwas auf der Strasse anzubieten, und seien es nur Dinge, die sie aus dem Müll gefischt haben. Immer öfter kommen auch Kinder mit aufgehaltenen Händen in die Restaurants, und im Supermarkt wird man von Fremden angesprochen, ob man ihnen eine Dose Trockenmilch oder ein Paket Zucker kaufen könne.

Richtig bewusst wurde vielen die Situation erst, als einige Zeitungen Fotos druckten, auf denen Menschen zu sehen waren, die in Knochen und Fleischabfällen wühlten.

Auch Aline Conceição und ihre Kinder sind von dem betroffen, was Expert:innen Ernährungsunsicherheit nennen. Obwohl Conceição rund 54 Stunden in der Woche arbeitet, reicht das Geld hinten und vorne nicht. Seit dem Beginn der Pandemie erhält Conceição deswegen Lebensmittelpakete, die in der Favela Campinho von der Kinderpastoral, einer katholischen Organisation, verteilt werden. Darin enthalten sind unverderbliche Nahrungsmittel: Reis, Bohnen, Nudeln, Öl, Salz, Zucker. Aber Obst beispielsweise kann sich die Familie schon lange nicht mehr leisten.

«Ohne die Lebensmittelhilfen müssten wir hungern», sagt Conceição. «Davor habe ich Angst.» Es ist eine Erleichterung, dass ihre drei Kinder zwischen sieben und siebzehn Jahren wieder in die Schule gehen und dort täglich zwei Mahlzeiten bekommen. «Aber was ist, wenn ein erneuter Lockdown kommt?», fragt die Mutter.

Immer kleinere Lebensmittelpakete

Es ist allein den Spenden von Unternehmen, NGOs, Kirchen und Privatleuten zu verdanken, dass in Brasilien bislang keine Hungersnöte ausgebrochen sind. Völlig ausgeschlossen ist dies aber nicht. Denn die Spendenbereitschaft hat mit dem scheinbaren Auslaufen der Pandemie stark abgenommen. «Unsere Lebensmittelpakete werden immer kleiner, und wir können sie nicht mehr wöchentlich ausgeben», sagt Claudia Soares, die Koordinatorin der Kinderpastoral in Campinho.

Es mag ein wenig seltsam klingen, aber für Aline Conceição ist es finanziell von Vorteil, in einer Favela zu leben. Vor einigen Jahren kaufte sie in Campinho rund 35 Quadratmeter Land – sie arbeitete damals als Kassiererin in einem Bus, ein Job, den heute Automaten erledigen – und baute ein winziges Häuschen mit einem Raum. Sie zahlt keine Miete und wie die meisten Favelabewohner:innen auch nichts für Wasser und Strom. Einen Fernseher gibt es ebenso wenig wie einen Telefon- oder WLAN-Anschluss. Lediglich ihren Gasbehälter muss Conceição alle zwei bis drei Monate ersetzen. «Er kostet 105 Reais – vor nicht allzu langer Zeit war es noch die Hälfte», sagt sie.

Tatsächlich leidet Brasilien unter einer galoppierenden Inflation. Um mehr als zehn Prozent stiegen die Preise in den vergangenen zwölf Monaten laut dem Statistikinstitut IBGE an. Woche für Woche werden im Supermarkt die Produkte teurer und die Schlangen an den Kassen kürzer, weil weniger Leute einkaufen und deren Einkäufe sich verkleinern. Auch Taxis oder Uber-Fahrer:innen sind immer schwieriger zu finden, weil der Benzinpreis derart gestiegen ist, dass es sich kaum noch lohnt, überhaupt den Motor anzulassen.

Aline Conceição sagt, dass ihre Familie seit Monaten kein Fleisch mehr gegessen habe. Sie meint Rindfleisch, das für viele Brasilianer:innen ein Gradmesser für Lebensqualität ist. Kann man sich keins leisten, geht es einem schlecht. «Aber selbst Hühnerfüsse sind mittlerweile zu teuer», sagt Conceição. «Das Kilo kostete einst drei Reais, heute sind es dreizehn.»

Für Talíria Petrone ist die Situation von Aline Conceição Ausdruck «einer der schlimmsten sozialen Krisen seit Generationen». Die 36-Jährige sitzt seit drei Jahren für die kleine linke Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) im Parlament und steht für einen neuen Typ Politikerin. Sie ist Schwarz, jung, Feministin, stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Und sie weiss im Gegensatz zu den allermeisten anderen Politiker:innen, wovon sie spricht, wenn sie über die Nöte der Bevölkerung redet. Man telefoniert mit ihr zwischen zwei Ausschusssitzungen, sie ist im Stress. Und sie ist wütend. Brasiliens ultrarechter Präsident Jair Bolsonaro sei direkt für die Verschärfung der Krise verantwortlich, sagt sie. «Durch seine Austeritätspolitik wurden Sozialleistungen gekürzt und Gelder für die Gesundheit gestrichen. Er hat der Bevölkerung Rechte genommen.»

Petrone spricht davon, dass die Linke bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Oktober 2022 den Kreis des Bolsonarismus durchbrechen müsse, um das Land zu erneuern. Sie schlägt vor, die hohen Einkommen und die grossen Vermögen stärker zu besteuern und ein Grundeinkommen für die Armen einzuführen.

Letztendlich sind es die sozialen Fragen, die über die Wahl entscheiden werden, bei der Bolsonaro von Expräsident und Linkenikone Lula da Silva herausgefordert wird. Während man im Ausland Bolsonaro für unwählbar hält, weil er den Amazonas zerstören lässt, die Coronapandemie beförderte und Homosexuelle, Schwarze und Indigene beschimpft, so ist für die meisten Brasilianer:innen die wirtschaftliche Situation entscheidend.

Weil auch Bolsonaro weiss, dass die Mehrheit der Brasilianer:innen arm ist und unter der Krise leidet, umwirbt er sie nun mit Methoden, die Petrone schlicht «Stimmenkauf» nennt. In der Pandemie beschloss die Regierung etwa eine Notfallzahlung von monatlich 200 Reais (33 Franken), die dann auf Druck linker Parteien im Parlament auf 600 Reais (100 Franken) erhöht wurde. Bolsonaro versuchte, die Transfers dann als «Bolsonaro-Hilfe» zu verkaufen.

Nun hat seine Regierung ein erfolgreiches Sozialprogramm beendet: «Bolsa Família», die Familienhilfe. Sie war 2003 von Lula ins Leben gerufen worden und garantierte armen Familien ein Grundeinkommen. In achtzehn Jahren bewahrte sie Millionen von Menschen vor Hunger und Armut, und die Vereinten Nationen empfahlen sie anderen Ländern des Globalen Südens.

An ihrer Stelle hat Bolsonaro ein eigenes Programm aufgelegt: «Auxílio Brasil», die Brasilien-Hilfe. Aber das endet in genau zwölf Monaten, also just nach der Wahl. Es ist klar, dass «Auxílio Brasil» von Bolsonaro erdacht wurde, um die Stimmen der Armen zu ködern, die das Geld mit ihm assoziieren sollen und nicht mehr mit Lula.

Lula liegt vorn

Die politische Macht sichert sich Bolsonaro unterdessen durch ein Bündnis mit mehreren Mitte-rechts-Parteien im Kongress, dem sogenannten Centrão. Sie verhindern, dass ein Impeachment-Verfahren gegen ihn eröffnet wird, und haben nun erstmals in der Geschichte Brasiliens einen radikalen evangelikalen Christen in den Obersten Gerichtshof berufen. Doch der Centrão lässt sich seine Unterstützung teuer bezahlen: durch Posten und Geldzuweisungen für Projekte seiner Abgeordneten. Dabei ist immer auch Korruption im Spiel.

Trotz der Widersprüche und der Inkompetenz seiner Regierung belegt Bolsonaro in den Wahlumfragen, die schon jetzt stattfinden, einen soliden zweiten Platz. An erster Stelle liegt deutlich Lula da Silva. An dritter Stelle hat sich Sérgio Moro etabliert, ein ehemaliger Richter und der Exjustizminister Bolsonaros. Er ist umstritten, weil er Lula 2018 in einem fragwürdigen Verfahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilte, die später aufgehoben wurde. Als Justizminister unter Bolsonaro trat er dann nach sechzehn Monaten zurück. Moro wird von der Linken abgelehnt, und für Bolsonaro-Fans ist er ein «Verräter». Aber die wirtschaftliche Elite hat ihn zu ihrem Kandidaten erkoren.

Dass nun ausgerechnet der 76-jährige Lula noch einmal als Hoffnungsträger der Linken antritt, könnte man als Armutszeugnis betrachten. Die Linke hat seit dem Ende seiner Präsidentschaft 2011 keine ähnlich charismatische Persönlichkeit mehr hervorgebracht, und die hohen Zustimmungsraten für ihn entspringen vor allem der Nostalgie. In Lulas Regierungsjahren sprudelten die Einnahmen aus dem Öl-, Eisenerz- und Sojaexport, den Armen wurde geholfen, der Konsum brummte, und der Real war stark.

Dennoch verteidigt Talíria Petrone Lulas Kandidatur, weil er der Einzige sei, der die Linke einen und Bolsonaro aus dem Amt fegen könne. Auch für Aline Conceição aus der Favela Campinho steht schon fest, wen sie wählen wird: «Unter Lula haben wir Fleisch gegessen», sagt sie. Das muss als Antwort genügen.