Erinnerungspolitik: Bitte nicht aufräumen!

Nr. 50 –

Die Debatte um den richtigen Umgang mit der deutschen Vergangenheit tobt weiter. Der Historiker Per Leo begrüsst diese Entwicklung in seinem streitbaren neuen Buch.

Ein Bild des Künstlers Ruppe Koselleck trägt den Titel «Ich kann beim besten Willen kein Fischstäbchen erkennen». Es ziert das Cover des Buches «Tränen ohne Trauer» von Per Leo und passt gut zur deutschen Erinnerungspolitik. Denn je nach Perspektive sieht man entweder vier brutzelnde Fischstäbchen in einer Pfanne oder die Konturen eines Hakenkreuzes. Leo will die deutsche Erinnerungskultur für das Heute wieder fruchtbar machen, anstatt die Gegenwart rituell in die «Kostüme der Weimarer Republik und des Dritten Reiches» zu stecken. Kein einfaches Unterfangen, wenn selbst in unschuldigen Fischstäbchen schon die nächste Swastika lauert.

Nicht rumheulen, arbeiten!

Der 49-jährige Per Leo ist Historiker, Schriftsteller und Antisemitismusexperte. Sein Lebensthema ist der Nationalsozialismus; der NS-Zeit und ihren Spätfolgen hat er bereits drei Bücher gewidmet. Nach einer Dissertation über die Geschichte des Antisemitismus legte er mit dem gefeierten Roman «Flut und Boden» (2014) über seinen Grossvater, einen SS-Sturmbannführer, nach. 2017 trat er mit dem Verfassungsjuristen Maximilian Steinbeis und dem Philosophen Daniel-Pascal Zorn eine Debatte los, als er sich in «Mit Rechten reden. Ein Leitfaden» dafür aussprach, die argumentative Konfrontation mit rechtsradikalen Positionen zu suchen.

Mal abgesehen davon, ob eine solche Debatte gelingen kann und wie sinnvoll sie ist: Per Leo will die Vergangenheit nicht ruhen lassen. Auch nicht in seinem neusten Buch, «Tränen ohne Trauer». «Don’t cry – work»: Nicht rumheulen, an die Arbeit! Dieses Zitat des Schriftstellers Rainald Goetz hat Leo dem Buch vorangestellt. Angesichts der aktuellen Diskussion zu deutscher Vergangenheitspolitik hat er sich viel vorgenommen.

Berliner Humboldt-Forum, koloniale Beutekunst, Achille Mbembe, Holocaust und Kolonialismus: In der deutschen Öffentlichkeit läuft seit zwei Jahren eine vielschichtige, teils heftig geführte Debatte um die richtige Erinnerungspolitik. In einem angenehm nüchternen Beitrag hat der Historiker Sebastian Conrad in der Zeitschrift «Merkur» diese kürzlich als «Effekte der Ablösung eines Erinnerungsregimes durch ein anderes» beschrieben. Laut Conrad wird die Dominanz der viel beschworenen deutschen «Vergangenheitsbewältigung» der Nachkriegszeit gerade durch die Erfahrung einer globalisierten Gegenwart herausgefordert und ergänzt. Neben den Holocaust tritt beispielsweise die neuere Forschung zum deutschen Völkermord an den Herero und den Nama in Namibia. Während die einen die Singularität des Holocaust in Gefahr sehen, erkennen andere wie der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg darin eine Chance zur «multidirektionalen Erinnerung» (siehe WOZ Nr. 14/2021 ). Auch Leo wirft in seinem zugänglich geschriebenen Essay einen kritischen Blick auf das in die Jahre gekommene Erinnerungsnarrativ der Nachkriegszeit.

Ausgangspunkt ist die Gegenwart

«Das entschiedene Nein zu Hitler ist so leicht zu haben, dass es schwerfällt, dankend abzulehnen», heisst es bei Leo schon auf den ersten Seiten. «Musste vor 40 Jahren die schuldbelastete Vergangenheit aus ihrem Panzer gebrochen werden, liegt das Problem nun eher in ihrer schamlosen Zudringlichkeit.» Ein Blick auf die Debatten der letzten Jahre bestätigt diesen Eindruck: Selten waren Nazikeule und Holocaustvergleiche leichter zur Hand. Dabei verkomme die Singularität des Holocaust zur «Leerformel» des selbsternannten deutschen «Erinnerungsweltmeisters», der diese ständig bemühe, um der Vergangenheit keine neuen Fragen stellen zu müssen, kritisiert Leo. Die Singularitätsthese werde zum blossen Bekenntnis dafür, auf welcher Seite der Geschichte man stehe.

Eine «Aura des Sakralen» und eine gleichzeitige «Kontextvergessenheit» verstellten zusehends den Blick auf die historischen Verbrechen der Nazis. In Leos Verständnis ist die Shoah ein «Verbrechen der Masslosigkeit». Ein Denken, das dies erfassen möchte, dürfe daher nicht selbst masslos sein. Das leuchtet ein, genauso wie das Plädoyer für Kontextualisierung bei historischen Vergleichen: «Erst im Rahmen einer Genozidforschung, die kontextualisierend und vergleichend vorgeht, kann die Leerformel von ‹Singularität› der Einsicht in die Spezifik des Holocaust weichen.» In seinem Grossessay voller waghalsiger Verknüpfungen von historischer Forschung, Philosophie und Populärkultur schlägt sich Per Leo auf die Seite von Sebastian Conrad und Hannah Arendt. Letztere sprach sich bereits in der Nachkriegszeit für wohldurchdachte Vergleiche aus.

Leo argumentiert stets mit sprachlicher Verve, teilweise auch polemisch. Die essayistische Unordnung seines Textes erklärt sich durch einen von Leo gleich doppelt zitierten Leitsatz des Holocaustforschers Peter Novick: «Wenn wir von der Vergangenheit wirklich lernen wollen, dann muss diese Vergangenheit in ihrer ganzen Unaufgeräumtheit erscheinen.» Das Lernen aus der Geschichte begreift Leo als ständigen Prozess. Sein Ausgangspunkt ist die Gegenwart, und diese ist immer in Bewegung. Was auch bedeutet, dass die Vergangenheit von jeder Gegenwart wieder neu verhandelt werden muss.

Per Leo: Tränen ohne Trauer. Verlag Klett-Cotta. Stuttgart 2021. 272 Seiten. 30 Franken