Sachbuch: Wenn die Kontrolle ausser Kontrolle gerät

Nr. 2 –

Versuche, die Natur zu beherrschen, sind schiefgegangen – was tun mit der Welt, die bleibt? Die Pulitzerpreisträgerin Elizabeth Kolbert hat darüber ein beeindruckendes Buch geschrieben.

Jetskifahren ist in einigen Regionen der USA zur Risikosportart geworden: Man muss immer damit rechnen, von Fischen am Kopf getroffen zu werden. Asiatische Karpfen sind es, die bei lauten Geräuschen – etwa von Bootsmotoren – in Schwärmen aus dem Wasser springen. Dabei kann es durchaus Schwerverletzte geben.

US-Behörden importierten die ersten Karpfen vor fast sechzig Jahren. Man hoffte, die Fische würden Wasserpflanzen fressen und so das Wasser reinigen. In den nordamerikanischen Gewässern geht es ihnen so gut, dass sie fast alle anderen Fischarten verdrängen. Heute werden sie erbittert bekämpft und zu Dünger verarbeitet. Am Chicago Sanitary and Ship Canal gibt es sogar elektrische Fischsperren, die das Wasser unter Strom setzen und so invasive Fischarten stoppen sollen.

Eine groteske Sache – und sie wird vor dem historischen Hintergrund dieses Kanals noch grotesker. Früher floss der Chicago River durch die Stadt in den See. Ende des 19. Jahrhunderts verdreckten die gigantischen Schlachthöfe den Fluss derart, dass ein Huhn angeblich über die Brühe wandern konnte, ohne unterzugehen. Ingenieure kamen auf die Idee, ihn kurzerhand umzudrehen und Richtung Südwesten abzuleiten. Seither sind die Grossen Seen mit dem riesigen Einzugsgebiet des Mississippi verbunden – und invasive Arten können sich fast ungehindert ausbreiten.

In ihre Umwelt verstrickt

Das ist nur die erste Geschichte zwischen Tragödie und Farce, die die US-Journalistin Elizabeth Kolbert in ihrem neuen Buch «Wir Klimawandler» erzählt. Der deutsche Titel führt in die Irre. Das Klima ist hier «nur» ein Symptom: Es geht um Versuche, die Natur zu kontrollieren, die ausser Kontrolle geraten ist – «weniger um die Beherrschung der Natur als um die Kontrolle der Naturbeherrschung», wie Kolbert schreibt.

2015 hat sie für «Das sechste Sterben», einen Reportageband über die bedrohte Biodiversität, den Pulitzerpreis erhalten. Auch ihr neues Buch hätte ihn verdient. Denn die Autorin des «New Yorker» schafft es wie nur wenige, ungeheuer anschaulich über die ökologische Krise zu schreiben und dabei ihrer ganzen Komplexität gerecht zu werden. Immer wieder macht sie deutlich, wie eng Menschen und ihre Umwelt ineinander verstrickt sind – und dass es nichts «Unberührtes» zu schützen gibt. Menschen können auf der Erde fast alles radikal verändern: die Richtung eines Flusses, die Artenzusammensetzung eines Kontinents, das Klima. Aber sie beeinflussen dabei Kräfte, die ein paar Dimensionen zu gross sind. Auch vielen, die an mehr oder weniger hilflosen Kontrollversuchen mitwirken, ist das inzwischen bewusst: Sie habe kaum Technikoptimismus angetroffen, sondern vor allem «einen gewissen Technikfatalismus», schreibt Kolbert.

Sie besucht New Orleans, das vor einem Dilemma steht: Die Stadt braucht Schutz vor Hochwasser – aber ohne regelmässige Überflutungen, die neuen Erdboden bringen, versinkt die ganze Gegend langsam im Meer. In Nevada trifft sie Wissenschaftler:innen, die ein künstliches Ökosystem gebaut haben, um eine Fischart zu retten, die nur in einem einzigen Wüstenwasserloch lebt. In Australien versuchen Forschende, Korallen zu züchten, die mit wärmeren Wassertemperaturen zurechtkommen – auch Gentechnik ist dabei eine Option. Auf dem gleichen Kontinent wird auch diskutiert, ob sich mit Gentechnik die invasive Agakröte ausrotten liesse. Der giftige Lurch, der aussieht, als würde er fies grinsen, eignet sich perfekt als Symbolmonster des Anthropozäns: Für die australische Fauna ist er noch verheerender als die Karpfen für die nordamerikanische, denn unzählige Tiere fressen ihn und sterben. Was sei schon Gentechnik im Vergleich mit invasiven Arten, argumentieren manche Wissenschaftler:innen: Diese brächten nicht nur einzelne Gene, sondern ganze Genome in Umgebungen, die nicht damit umgehen könnten. Aber natürlich ist Gentechnik nur ein weiterer Kontrollversuch, der Folgen haben könnte, die niemand voraussieht.

Wilde Schwankungen

Zum Schluss reist Kolbert nach Grönland. Davor hat sie noch das Schweizer Start-up Climeworks (siehe WOZ Nr. 5/2019 ) besucht, das mithilfe von Wasser und sehr viel Energie CO2 in Stein verwandelt und ihr recht sympathisch scheint – weniger zweifelhaft jedenfalls als die Versuche, das Klima abzukühlen, indem man mineralische Partikel in die Stratosphäre schiesst. Was sie in Grönland anhand von Eisbohrkernen über Klimageschichte lernt, kann man tröstlich finden – oder noch beunruhigender als alles andere in diesem Buch: Wilde, manchmal auch sehr kurzfristige Klimaschwankungen waren in der Erdgeschichte ganz normal, auch ohne menschlichen Einfluss. Aussergewöhnlich war die Stabilität der letzten 10 000 Jahre – nicht zufällig entwickelte sich in dieser Zeit die Landwirtschaft. Diese Zeit ist vorbei: «Ohne es zu wollen oder auch nur zu merken, hat die Menschheit die Stabilität, die sie durch eine glückliche Fügung erlebt hat, dazu genutzt, eine Instabilität im Grönland-Massstab zu erzeugen.» Was tun mit diesem Wissen? Kolbert verzichtet ganz auf Appelle. Vielleicht bringt man ihr Buch gerade deshalb nicht mehr aus dem Kopf.

Elizabeth Kolbert: Wir Klimawandler. Wie der Mensch die Natur der Zukunft erschafft. Aus dem Amerikanischen von Ulrike Bischoff. Suhrkamp Verlag. Berlin 2021. 240 Seiten. 40 Franken