Digitale Ökonomie: «Die Menschen werden zu Robotern gemacht»

Nr. 3 –

Der Basler Soziologe Simon Schaupp hat sich intensiv mit digital gesteuerten Arbeitsprozessen beschäftigt. Ein Gespräch über die Mythen der Digitalisierung, kybernetische Kontrolle und informellen Widerstand.

«Es geht immer um das Abarbeiten digitaler Anweisungen», sagt Simon Schaupp: Amazon-Verteilzentru­m in Österreich. Foto: Hans Klaus Techt, Keystone

WOZ: Simon Schaupp, für die Recherche zu Ihrem Buch «Technopolitik von unten» haben Sie mehrere Monate als Velokurier und in der Elektroindustrie gearbeitet. Wie haben Sie die Arbeitsprozesse erlebt?
Simon Schaupp: In der Elektroindustrie werden die einzelnen Arbeitsschritte jeweils auf Displays angezeigt. Wenn man eine Anweisung ausgeführt hat, muss man dies bestätigen. Dabei wird die Zeit gestoppt. Ist man zu langsam, wird das auf dem Display eingeblendet. Beim Kurierdienst erhielt ich Feedbacks aufs Handy. Wenn man für eine Lieferung zu lange braucht, erhält man manchmal Anrufe, in denen eine Roboterstimme zur Eile auffordert. Zudem werden die Beschäftigten miteinander verglichen und wöchentlich per E-Mail mit Vorschlägen beliefert, wie sie effizienter und produktiver werden können.

Das klingt nach ständigem Druck. Kommt es deshalb bei Plattformlieferdiensten vermehrt zu Streiks, wie jüngst etwa in der Schweiz bei Smood?
Die Streiks bei Smood fügen sich tatsächlich in eine internationale Tendenz. In der «digitalen Ökonomie», die durch Mittel wie Smartphone-Apps strukturiert ist, häufen sich in vielen Ländern die Arbeitskämpfe. So zeigt eine aktuelle Untersuchung etwa, dass dort ungefähr sechzig Prozent mehr Arbeitstage durch Streiks verloren gehen als in der «analogen Ökonomie». Das widerspricht der weitverbreiteten Vorstellung, dass die Beschäftigten lückenlos kontrolliert, isoliert und ihrer Handlungsfähigkeit beraubt würden. Es handelt sich also im Gegenteil ganz offensichtlich um eine besonders konfliktintensive Branche.

Wo liegen denn die Gründe dafür?
Je umfänglicher die Arbeitsprozesse digital koordiniert und kontrolliert werden, desto stärker fühlen sich die Menschen in ihrer Würde verletzt. In einer Fabrik habe ich einen sehr bezeichnenden Fall beobachtet: Dort sollte ein smarter Handschuh eingeführt werden, der bei unerwünschten oder zu langsamen Bewegungen vibriert. Die Leute fühlten sich wie pawlowsche Hunde, die konditioniert werden sollen. Ich hörte immer wieder: «Wir werden behandelt wie Roboter.» Dieses entwürdigende Gefühl verspürten viele meiner Arbeitskolleg:innen. Die Menschen werden nicht einfach durch Maschinen ersetzt, sondern selbst quasi zu Robotern gemacht. Das illustriert etwa auch das Industriedesign in Amazons automatisierten Warenlagern: Autonome Transportroboter bringen die bestellten Produkte zu Verpacker:innen, die in Käfigen stehen. Früher war jener Platz Robotern zugewiesen, damit sie den Arbeitenden nicht in die Quere kamen und sie verletzten.

Diese Degradierung war aber auch schon eine Folge des Fliessbands, das die Arbeitenden dem Takt der Maschine unterordnete.
Ja, die Tätigkeiten waren schon vor der Digitalisierung kaum autonom und sinnstiftend. Es gibt aber bedeutende Veränderungen mit dem, was ich kybernetische Kontrolle nenne: Dabei wird nicht einfach der Taylorismus fortgeführt, also die Produktivität durch eine weitere Zerstückelung der Arbeit in kleine repetitive Schritte gesteigert. Mit der Digitalisierung hält ein Regime feedbackbasierter Selbstoptimierung und -regulation Einzug, indem Daten aus dem Arbeitsprozess automatisiert ausgewertet werden. Die Beschäftigten werden nicht mehr durch ein Management überwacht und sanktioniert, sondern lösen durch die digitalen Systeme selbst Feedback aus, etwa wenn sie zu langsam sind oder die Effizienz gesteigert werden kann. Das Management betont, dass die Beschäftigten so ihre Arbeit selbst organisieren könnten und Autonomie entstehe.

Ist diese «Autonomie» nicht einfach Ideologie und Marketing? Schliesslich übernehmen Algorithmen die Kontrolle.
Das Management scheint tatsächlich an diese «Autonomie» zu glauben. Die Beschäftigten übernehmen die Ideologie aber nicht einfach, sondern erkennen darin eine Kontrollstrategie. Eine Arbeitskollegin sagte, das sei Selbstentfremdung statt Selbstbestimmung: Ihr würden zwar keine konkreten Handlungen vorgegeben, sie werde aber durch digitale Feedbacks bestimmt, in denen sie ihre eigenen Entscheidungen und Handlungen nicht erkenne. Die Arbeitenden erhalten über Displays, Smartphones und andere digitale Mittel ständig Anweisungen, um Produktivität und Effizienz zu steigern.

Wie erfolgreich ist diese Strategie?
Auf Dauer lässt sich die Optimierung nicht durchhalten, also versuchen Beschäftigte, sie zu unterlaufen. Bei den Velokurieren sagten viele, sie hätten sich am Anfang nach den Vorschlägen ausgerichtet. Der Wettbewerb unter den Arbeiter:innen wird aber irgendwann so zermürbend, dass die meisten ein Mittelmass anstreben: den Job behalten, trotzdem nicht ausbrennen. Dieses Verhalten zieht sich durch das gesamte «kybernetische Proletariat».

Was zeichnet diese Form des Proletariats aus?
Es gibt drei wichtige Elemente in dessen Arbeitsprozess. Das erste beschreibe ich als dequalifizierte Flexibilisierung. In der Industrie etwa speisen Facharbeiter:innen ihr Wissen in die Systeme ein und machen sich damit überflüssig, weil unqualifizierte Beschäftigte an ihre Stelle treten können. Dadurch können Firmen Arbeitskräfte viel flexibler einsetzen. Deren Einarbeitung in die vereinfachten Prozesse wird automatisiert, ständige Personalwechsel stellen für die Firmen so keine grosse Herausforderung mehr dar. Die beiden anderen Aspekte sind damit verwoben: Die im Arbeitsprozess anfallenden Daten werden genutzt, um die Prozesse weiter zu automatisieren. Und schliesslich soll eine Verdichtung der Arbeit die Produktivität steigern.

Das heisst, dass Arbeiter:innen wegrationalisiert werden.
Diese Veränderungen schleudern zwar Leute aus dem Arbeitsprozess, aber sie erzeugen auch neue Jobs. Dadurch entsteht eine Gegentendenz zur Automatisierung. Investitionen in die Maschinerie – oder eben in Robotik und Software – werden nur getätigt, wenn sich damit Geld einsparen lässt. Durch die Abwertung sinken aber auch die Kosten für Arbeitskräfte, die sich zugleich flexibler und effizienter einsetzen lassen.

Diese Tendenz kann man auch daran erkennen, dass die Investitionsquote sinkt, also weniger von der Wirtschaftsleistung in fixes Kapital wie die Maschinerie reinvestiert wird. In der hoch entwickelten Robotik ist dieser Prozess nochmals stärker akzentuiert. Das unterstreicht, dass der Automatisierungsdiskurs aufgeblasen ist und statt technologisch bedingter Arbeitslosigkeit vielmehr prekäre Arbeitsverhältnisse, unqualifizierte Jobs und flexible Anstellungen um sich greifen.

In welchen Bereichen werden diese Jobs geschaffen?
Algorithmisch gesteuerte Tätigkeiten entstehen in vielen Bereichen, klar ersichtlich etwa in Logistik und Industrie oder bei Lieferdiensten. Es ist zwar ein Unterschied, ob ich zu Hause Daten eingebe oder körperliche Arbeit verrichte, aber das Entscheidende ist die Veränderung des Arbeitsprozesses durch die algorithmische Steuerung. Es geht dabei immer um das Abarbeiten von digitalen Anweisungen. Die digitale Abwertung der Arbeit ist eine explizite Strategie der Manager, mit denen ich gesprochen habe.

Die Digitalisierung ist aber nicht die Ursache für diese Entwicklung. Die Offensive zur Abwertung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen hat schon früher angefangen, sie wird durch die algorithmische Steuerung allerdings gesteigert. Diese vereinfacht die Integration von prekär Beschäftigten in flexible Prozesse. Wenn man die Menschen erst lange in ihre Jobs einarbeiten muss, ergeben temporäre Arbeitsverhältnisse für Firmen wenig Sinn. Dank der neuen Mittel können sie Beschäftigte viel einfacher ersetzen, wenn diese kündigen oder sich wehren. Drastisch zeigt sich das etwa darin, dass der Lieferdienst Gorillas nicht zögerte, Hunderte Kurier:innen zu entlassen, nachdem diese in den Streik getreten waren.

Diese Prozesse haben einen Machtverlust für die Arbeitenden zur Folge.
Die hohe Fluktuation und Flexibilität machen die gewerkschaftliche Organisation sehr schwierig. Wenn es Beschäftigten nicht mehr passt, wechseln sie oft einfach in den nächsten prekären Job. Auch nimmt die Ersetzbarkeit den Arbeitenden Machtmittel aus der Hand. Zugleich entstehen aber neue Spielräume: Die algorithmische Steuerung automatisiert Aufgaben des mittleren Managements. Viele empfinden es als angenehm, keinen Chef zu haben, der ihnen ständig über die Schulter schaut.

Zudem entstehen Lücken in der Kontrolle. In einer Fabrik, in der ich geforscht habe, mussten die Beschäftigten nur bei Fehlern einer Maschine eingreifen, wobei diese anzeigte, wie wahrscheinlich ein solcher gerade ist: Wenn die Wahrscheinlichkeit tief war, machten die Arbeitenden Pause und gingen rauchen. Das Modell der Selbstregulation durch ständige Feedbacks ist auch manipulierbar. Beschäftigte können durch kollektive Verlangsamung das vorgeschriebene Arbeitstempo senken. In den Betrieben, die ich untersucht habe, war das der Belegschaft stellenweise gelungen. Zum Teil wurde die Technik auch aktiv gesteuert: Velokuriere haben die GPS-Ortung ihrer Smartphone-Apps manipuliert.

Das sind Akte individueller Gegenwehr. Wie verhält es sich denn mit kollektiven Kämpfen?
Durch die digitale Verdichtung werden die Lieferketten und die Abläufe sehr anfällig. Wenn an einem Ort die Arbeit stillsteht, hat das nicht nur Auswirkungen auf die Firma, sondern auch auf die ganze Produktion. Als die Belegschaft eines ungarischen Audi-Werks 2019 eine Woche lang streikte, legte sie damit grosse Teile der zentraleuropäischen Autoindustrie lahm. Streik oder Sabotage können sehr viel Druck erzeugen, zumal die digitale Infrastruktur selbst sehr anfällig für Manipulation ist.

Simon Schaupp Foto: Derek Li Wan Po

Die Dynamik des Arbeitsmarkts, die Investitionsquoten und die technologische Entwicklung deuten darauf hin, dass sich die algorithmisch gesteuerte Arbeit weiter ausbreitet. Dies geht fast zwangsläufig mit einer Abwertung der Arbeitsverhältnisse und einem Angriff auf die Würde einher. Ich gehe deshalb davon aus, dass sich die Konflikte weiter zuspitzen werden.

Der Arbeitssoziologe

Simon Schaupp (33) arbeitet als Soziologe an der Universität Basel. Zu seinen thematischen Schwerpunkten gehört die Digitalisierung der Arbeitswelt.

2021 ist sein Buch «Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung» beim Verlag Matthes & Seitz erschienen. Für die Studie hat Schaupp selbst bei einem Lieferdienst und in der Industrie gearbeitet und mit Management, Techniker:innen und Beschäftigten gesprochen.