Digitaler Kapitalismus: Neues aus der sozialen Fabrik
Was machen Uber, Amazon und Co. mit uns? Ein Suhrkamp-Sammelband arbeitet blinde Flecken der Techdebatte heraus.
Spätestens seit sich Reden, Schulaufsätze oder Referate mühelos mit Chat GPT erzeugen lassen, ist künstliche Intelligenz in aller Munde. Oft ist dabei von einer der grössten technischen Revolutionen der Geschichte die Rede, manche prophezeien gar, der Mensch werde bald von autonom handelnden Maschinen abgelöst. Der neue Sammelband «Theorien des digitalen Kapitalismus» bringt dagegen etwas Nüchternheit in die Debatte und versucht, diese ein wenig zu sortieren.
In 25 Einzelbeiträgen untersuchen Soziolog:innen, wie sich Ökonomie, Arbeitswelt und Gesellschaft entlang des technischen Prozesses verändern. Das Fazit der Herausgeber:innen Tanja Carstensen, Simon Schaupp (Uni Basel) und Sebastian Sevignani: Die rasante Digitalisierung mag Wertschöpfung, politische Öffentlichkeit wie auch die Subjektivität von uns allen erheblich verändert haben, doch die bestehenden Gesellschaftsverhältnisse sind dadurch nicht etwa umgewälzt, sondern eher vertieft worden. Oder wie es der britische Gesellschaftswissenschaftler Jamie Woodcock in seinem Beitrag über «Plattformarbeit» ausdrückt: «Es besteht die Gefahr, dass die Rolle der Technologie in diesen Beziehungen überbetont wird.»
Feministische Perspektiven
Der Band beginnt seinen Rundblick aus feministischer Perspektive. Ursula Huws, die im britischen Hertfordshire zu Arbeit und Globalisierung forscht, lenkt den Blick auf den Reproduktionsbereich: Sie weist darauf hin, dass dort viele Tätigkeiten (etwas die Essenszubereitung oder das Wäschewaschen), «die früher von direkt angestellten Bediensteten erbracht wurden», heute zusehends «von gewinnorientierten Unternehmen übernommen werden». Das Geschäftsmodell von Unternehmen wie etwa Uber Eats beruht folglich auf einer Vermarktlichung und Kommodifizierung von Hausarbeit.
Auf eine Leerstelle des Technikdiskurses verweist auch die Medienwissenschaftlerin Kylie Jarrett, die digitale Arbeit als feminisierte Arbeit interpretiert. In der digitalen Ökonomie werde, schreibt Jarrett, die Gesellschaft gewissermassen zur «sozialen Fabrik». Die Produktivität hänge in dieser nämlich oft weniger von der unmittelbaren Lohnarbeit als von der Pflege sozialer Beziehungen und Netzwerke ab: «Ein beträchtlicher Teil der Aktivitäten, die zur Schaffung von Mehrwert durch digitale Medienunternehmen beitragen, ist formal unbezahlt, findet in einer Zeit statt, die man eigentlich als Freizeit bezeichnen würde, und ist auf Fähigkeiten […] angewiesen, die häufig jenseits der kapitalistischen Wirtschaft verortet wurden.» Die Ausbreitung der immateriellen Arbeit stehe also, so Jarrett, auch für eine Feminisierung der Arbeit.
In diesem Geist beleuchtet der Sammelband viele blinde Flecken der Technikdebatten. Jamie Woodcock geht in seinem bereits erwähnten Aufsatz der Frage nach, wie Plattformunternehmen eigentlich ihre Gewinne erzielen. Tatsächlich ist bemerkenswert, dass Uber kein einziges Taxi, Airbnb keine Wohnung und der Einzelhändler Alibaba kein Inventar besitzt. Woodcock untersucht allerdings nicht nur das Geschäftsmodell, sondern erörtert auch Widerstandsmöglichkeiten in den neuen Arbeitsbeziehungen, die ja meist nicht auf regulärer Lohnarbeit beruhen.
Andreas Boes und Tobias Kämpf versuchen, mithilfe des altmodischen Begriffs der «Produktivkraftentwicklung» herauszuarbeiten, inwiefern Kontinuitäten oder Brüche überwiegen. Dabei kommen sie zum Ergebnis, dass die Arbeit der Zukunft keineswegs «nachindustriell» sei: Vielerorts bringe der technische Sprung vor allem digitale Fliessbänder, prekäre Arbeitsverhältnisse und algorithmische Kontrolle hervor – was man ja in den Lagerhallen von Amazon anschaulich vorgeführt bekommt.
Open Source und Privateigentum
Stefan Schmalz wiederum vergleicht die digitale Regulation in den USA und China. Tilman Reitz, Sebastian Sevignani und Marlen van den Ecker untersuchen, wie Digitalkonzerne private Eigentumsrechte aufrechterhalten. Dabei stützen sich die Techunternehmen im Produktionsprozess selbst häufig auf Gemeineigentumsstrukturen. So ist allgemein zugängliche Open-Source-Software eine unverzichtbare Grundlage beim Programmieren von Plattformen. Dafür haben die Konzerne komplexe «Ökosysteme» entwickelt, in denen Wissens- und Informationsströme frei zirkulieren können, andererseits aber eben auch das Privateigentum an (häufig leicht zu vervielfältigenden) Arbeitsprodukten gesichert bleibt.
Unterm Strich bieten die «Theorien des digitalen Kapitalismus» einen hervorragenden Überblick über die gesellschaftlichen Prozesse, die mit der Digitalisierung einhergehen. Gemein ist den Beiträgen ein dezidiert gesellschaftskritischer Blick. Wer eine Antwort auf die Frage sucht, wann denn nun die Maschinen wohl die Menschheit an der Spitze der Evolution ablösen werden, wird in diesem Buch nicht fündig werden. Vielmehr mahnt der Band dazu, das Augenmerk auch weiterhin auf die Ungleichheitsbeziehungen zwischen den Menschen zu richten.