Filmfestspiele in Cannes: Austern und Granaten
Der Krieg schwelt nicht nur im Hintergrund: Das Filmfestival in Cannes sucht den heiklen Spagat zwischen perversem Genuss und dem Grauen der Wirklichkeit.
Gedränge an der Croisette, Stars auf dem roten Teppich, volle Kinos und nur ab und zu jemand mit Maske: Schnell ist das Festival von Cannes zu dem zurückgekehrt, was es vorher ausgemacht hat. Das hat die Aura einer trotzigen Verdrängungsleistung – auch auf der Leinwand war Corona kein Thema mehr. Und die Frage nach der Zukunft des Kinos wurde entschieden beantwortet: Erst mal zurück in die Vergangenheit!
Dazu passt, wie Tom Cruise zum Bannerträger des Festivals wurde, gefeiert wie die leibhaftige Inkarnation des Kinos – und das für das Sequel eines 36 Jahre alten Erfolgs. Nun kann man «Top Gun: Maverick» einiges abgewinnen: Die Mischung aus Humor und Pathos, aus Action und Rührung, der vage bleibende politische Hintergrund der kriegerischen Handlung, die dennoch das alte Lied vom guten US-Patriotismus und seinen einzelnen Helden singt – das alles ist Hollywood, wie man es kennt und eventuell liebt. Aber das eigentliche Herz von Cannes müsste woanders schlagen, oder?
Die ersten Tage standen noch ganz im Zeichen des Kriegs, nicht nur des aktuellen. Da war Pietro Marcellos Film «L’Envol», der damit beginnt, dass ein Mann traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg heimkehrt und nur schwer wieder Aufnahme in seiner französischen Provinz findet. Mathieu Vadepied wiederum begab sich in «Tirailleurs» mitten hinein in den Ersten Weltkrieg, um sich einem bislang wenig beleuchteten Aspekt zuzuwenden: den afrikanischen Soldaten, die die Republik Frankreich in ihren Kolonien zwangsrekrutierte. Omar Sy, der Star aus «Intouchables», spielt einen senegalesischen Vater, der zusammen mit seinem Sohn gefangen genommen und an die Front von Verdun verschleppt wird. Konsequent aus der Perspektive seiner Schwarzen Helden erzählt, gelingt es Vadepieds Film, vom Vater-Sohn-Konflikt wie auch vom Horror der Schützengräben zu erzählen.
Sympathie für den Oligarchen
Der Krieg der Gegenwart, der russische Überfall auf die Ukraine, blieb nach der Videobotschaft des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zur Eröffnung thematisch dann doch im Hintergrund. Schon früh hatte Cannes erklärt, keine russischen Delegationen zuzulassen, sehr wohl aber einzelne Filmemacher:innen. In der Auswahl übrig blieb aber nur einer: Kirill Serebrennikow, der mit seinem dritten Film im Wettbewerb erstmals persönlich dabei sein konnte – zuvor hatte ihn jeweils ein Hausarrest in Moskau festgehalten. Serebrennikow, der sich deutlich gegen den Krieg positioniert und sich ins Exil begeben hat, löste dann doch einen kleinen Shitstorm aus, als er am Ende seiner Pressekonferenz seine Sympathie für den Oligarchen Roman Abramowitsch und dessen Kunstmäzenatentum bekundete. Vor nachhaltigem Ärger schützte ihn wohl sein Film: «Tchaikovsky’s Wife» enthält zwar durchaus scharfe Bezüge zur russischen Gegenwart, doch das stilvolle Historiendrama liess das Publikum eher kalt.
An anderer Stelle hatte das Festival Bilder aus der unmittelbaren Realität ins Programm genommen: Unter dem Titel «Mariupolis 2» lief das eilig zusammengeschnittene Material, das der litauische Dokumentarfilmer Mantas Kvedaravicius in Mariupol gedreht hatte, bevor er dort im April von russischen Soldaten erschossen worden war. Seine Aufnahmen zeigen keine Kampfhandlungen, sondern bezeugen das Ausmass der Zerstörung in bedrückender Alltäglichkeit: Einschläge in der Nähe, noch heisse Granatensplitter und dazwischen kleine Akte sisyphushaften Ordnungmachens beim Zusammenfegen von Trümmern.
Auf der Jacht stinkts
Das war nur schwer zu verdauen, erst recht im Kontrast zum vielleicht geradezu perversen Genuss, den Bilder von inszeniertem Chaos und Zerstörung auch bereiten können. Etwa wenn Ruben Östlund in «Triangle of Sadness» eine Luxusjacht in einen Sturm geraten lässt. Da kommen den versammelten Reichen und Schönen die Austern wieder hoch, die sie eben noch geschlürft haben. Zudem laufen die Toiletten über, sodass die illustren Gäste bald in ihrem eigenen Erbrochenen und der eigenen Scheisse herumrollen. Kein besserer Gleichmacher als die Seekrankheit!
Immerhin kam das Festival so wieder bei der eigentlichen Stärke des hier hofierten Arthousekinos an: auf künstlerische Weise Gegenwart zu sezieren. Einen echten und alarmierenden Scan seiner Heimat nimmt der Rumäne Cristian Mungiu mit seinem neuen Film «R. M. N.» vor (der Titel meint das Land wie auch die rumänische Abkürzung für «Kernspintomografie»). Erzählt wird von einer transsilvanischen Kleinstadt im Hier und Heute. Dass die alteingesessenen Rumän:innen, Ungar:innen und Deutschen miteinander streiten, ist Normalität. Gestört wird der prekäre Friede aber, als die örtliche Brotfabrik Arbeitskräfte aus Sri Lanka anheuert.
Herzstück von Mungius Film ist eine Gemeindeversammlung, bei der all die Ressentiments zur Sprache kommen, die sich dreissig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs so etabliert haben: Hass auf Ausländer:innen, Vorurteile gegen Umweltschutzauflagen und andere «Diktate» der EU. «Bald dürfen wir nicht mehr ‹Mama› und ‹Papa› sagen!», klagt eine Bürgerin. Sie alle wissen um das Lohngefälle, das dafür sorgt, dass die Einheimischen gen Westen ziehen, wo sie besser verdienen. Dass es den Menschen in Sri Lanka ebenso ergeht, weshalb sie für einen Mindestlohn nach Rumänien kommen, will man nicht verstehen.