Abfallverbrennung: Welchen Kreislauf wollen wir?

Nr. 4 –

Die Schweizer Kehrichtverbrennungsanlagen müssen auch die nächsten Jahre fast nichts dafür bezahlen, dass ihre Abgase das Klima schädigen. Das garantiert ihnen ein umstrittener Deal mit Umweltministerin Sommaruga.

Kehrichtverbrennungsanlagen haben kaum Interesse an Abfallvermeidung: In der KVA Linth im Kanton Glarus. Foto: Ursula Häne

Für Technikbegeisterte mag es eine faszinierende Vision sein: In zwanzig Jahren fallen hierzulande zwar immer noch jährlich Hunderte Kilogramm Abfall pro Kopf an, und dieser Müll wird auch weiterhin verbrannt – doch das CO2, das dadurch entsteht, wird mit Filtern abgeschieden, gesammelt und durch eine Pipeline nach Norwegen gepumpt, wo man es 2600 Meter unter dem Meeresboden versenkt.

Unrealistisch? Illusionär? Oder genial? Eine detaillierte Studie gibt es dazu noch keine. Doch das Umwelt-, Verkehrs- und Energiedepartement von Simonetta Sommaruga setzt genau auf diese Lösung und unterzeichnet in Kürze eine entsprechende Vereinbarung mit dem Verband der Betreiber Schweizerischer Abfallverwertungsanlagen (VBSA).

705 Kilo pro Person

Die Schweizer Abfallmenge pro Kopf steigt und steigt. Inzwischen verursacht laut OECD jede und jeder Bewohner:in jährlich 705 Kilogramm Müll – mehr als in den meisten anderen Staaten. Das Verbrennen der Abfälle ist klimaschädlich. 2020 haben die Kehrichtverbrennungsanlagen (KVAs) der Schweiz rund 4,2 Millionen Tonnen CO2 in die Luft entlassen. Die Hälfte davon stammt nicht aus nachhaltigen Produkten wie Holz, sondern aus Kunststoffen und Plastik. Diese 2,1 Millionen Tonnen CO2 machen rund 4,5 Prozent der gesamten klimaschädigenden Emissionen der Schweiz aus.

In der Schweiz müssen sich besonders klimaschädigende Unternehmen eigentlich am europäischen Emissionshandelssystem beteiligen. Dabei werden Zertifikate zum CO2-Ausstoss ausgegeben. Wer keine mehr hat, muss zukaufen. Die Idee dahinter: Die Zahl der Zertifikate wird jährlich abgesenkt, umso teurer werden sie folglich. Abfallverbrennen zum Beispiel würde also schrittweise kostspieliger, was wiederum die Konsument:innen mit höheren Entsorgungsgebühren zu spüren bekämen. Das soll den Druck erhöhen, weniger Abfall zu produzieren.

Der Bund kann von diesem Mechanismus abweichen und mit Industrieverbänden spezifische Zielvereinbarungen aushandeln, die ebenfalls zur Senkung der Treibhausgase beitragen sollen. Eine entsprechende Vereinbarung mit dem VBSA ist Ende 2021 abgelaufen, die neue jetzt unterschriftsreif.

«Lächerliche Reduktion»

Was steht genau in dieser neuen Vereinbarung? Das federführende Bundesamt für Umwelt gibt sich zugeknöpft. Man wolle erst informieren, wenn alles unterschrieben sei, heisst es. Allerdings sind die zentralen Eckpunkte der Vereinbarung inzwischen vom Winterthurer Stadtrat veröffentlicht worden, nachdem er als Verantwortlicher für die Winterthurer KVA dem Vertrag zugestimmt hat.

Demzufolge müssen die KVAs der Schweiz auch in den kommenden Jahren ihren CO2-Ausstoss nur wenig reduzieren. Von Abfallvermeidung ist gar nicht die Rede. Vielmehr setzt der Bund auf das sogenannte Carbon Capture and Storage (CCS): So soll bis 2030 in einer ersten KVA eine CO2-Abscheidungsanlage installiert werden. 100 000 Tonnen CO2 sollen dadurch eingespart werden. Bei rund 2,1 Millionen Tonnen CO2-Emissionen der Schweizer KVAs ist das eine Reduktion von nicht mal fünf Prozent. Für die KVAs ist das eine billige Lösung. So müssen sie jährlich 30 Rappen pro Tonne Abfall zusätzlich zahlen, um die Kosten für die Entwicklung dieser Abscheideanlage mitzufinanzieren. Für Winterthur etwa heisst das rund 60 000 Franken Mehrkosten pro Jahr. Müsste die Winterthurer KVA dagegen beim Emissionshandelssystem mitmachen, wären laut dem Winterthurer Stadtrat mit Kosten von bis zu 6 Millionen Franken zu rechnen.

Die geheim ausgearbeitete Vereinbarung setzt also auf eine technische Lösung, die erst entwickelt werden muss und will; vom Verursacherprinzip will sie nichts wissen. Das Bundesamt für Umwelt schreibt auf Anfrage von «unverhältnismässig hohen Kosten», die man den KVAs aufbürden würde. Schliesslich seien die KVAs gesetzlich verpflichtet, die angelieferten Abfälle zu verbrennen.

Die Umweltverbände, von der WOZ über den Inhalt der neuen Vereinbarung informiert, reagieren mit Konsternation. «100 000 Tonnen Einsparungen bis 2030, das ist lächerlich», sagt Patrick Hofstetter, Klimaschutzexperte beim WWF. Wenn der Bund eine Vereinbarung zur CO2-Reduktion eingehe, so müsse diese mindestens so viel CO2-Einsparungen beinhalten, wie beim Emissionshandelssystem bis 2030 vorgesehen sei. Das sind laut Hofstetter annähernd 40 Prozent. Da es sich bei den KVAs um Betriebe der öffentlichen Hand handle, wäre gemäss Hofstetter sogar eine noch wesentlich höhere Reduktion zu verlangen. Matthias Wüthrich, Abfallexperte bei Greenpeace, kritisiert, dass die Vereinbarung das Thema Abfallvermeidung ausklammert. Die «KVAs haben kein Interesse daran», beklagt er. «Die wollen ihre Anlagen möglichst gut auslasten und damit mehr einnehmen.» Für Wüthrich ist ein Systemwandel dringend nötig. Der Staat und die Unternehmen müssten eine neue Infrastruktur aufbauen, die auf Wiederverwendung setze und in der billige Plastikverpackung keinen Platz mehr habe.

Bastien Girods Handschrift

Die neue Vereinbarung trägt die Handschrift des grünen Nationalrats Bastien Girod, der seit drei Jahren Präsident des VBSA ist. «Als ich mein Amt übernahm, habe ich im Verband das Thema CCS aufgebracht und die ETH involviert», sagt er gegenüber der WOZ. Technisch seien alle Elemente erprobt, es gehe jetzt darum, die Dinge zusammenzufügen. «Wir wollen mit der Vereinbarung einen globalen Beitrag leisten: einer Technologie zum Durchbruch verhelfen, die dann auch andere Länder übernehmen können.»

Im Gespräch für die Endlagerstätte ist Norwegen. Dort plant ein Konsortium der Öl- und Gaskonzerne Shell, Total und Equinor, CO2 im grossen Stil unter den Meeresboden zu pumpen, dorthin, wo früher Erdgas abgebaut wurde. Laut den Projektentwickler:innen hat es Platz für 80 Milliarden Tonnen CO2; genug für die KVA-Emissionen aus ganz Europa während Jahrzehnten.

Man kann auch von einer Art alternativer Kreislaufwirtschaft sprechen: Die Energiekonzerne erhalten die Möglichkeit, weiter Öl und Gas zu fördern und die in den letzten Jahren stetig expandierende Plastikindustrie mit Rohmaterial zu versorgen. Das dort produzierte Plastik – etwa für Verpackungsmaterial – endet dann in einer KVA, wo es verbrannt und das abgeschiedene CO2 nach Norwegen gepumpt wird, wo es die Energiekonzerne für einen entsprechenden Preis wieder in den Boden zurückdrücken. Ein doppeltes Geschäft für Shell und Co.

Doch irgendwer muss das Ganze auch bezahlen: Laut Girod kommen letztlich allein auf die Schweiz Investitionen von vier bis fünf Milliarden Franken zu. Tragen diese am Ende doch die Konsument:innen mit höheren Abfallgebühren? «Das ist eine politische Frage», antwortet Girod. Er kann sich vorstellen, dass der Staat einen Teil der Kosten übernimmt. Auch energiemässig schlägt das zu Buche: Girod rechnet mit zwei Prozent des gesamten Schweizer Stromverbrauchs, der nötig sei, um bei allen KVAs das CO2 abzuscheiden und es irgendwo in Europa zu versenken.

Lohnt sich das? Wäre es nicht viel klüger, den Abfall massiv zu reduzieren, Plastik nur noch im Ausnahmefall zu erlauben? Beim Europäischen Parlament liegt derzeit ein Antrag, alle KVAs ins Emissionshandelssystem aufzunehmen. Möglicher Termin dafür ist 2028. Verschiedene europäische Umweltverbände, aber auch der grosse private deutsche Abfallentsorger Remondis unterstützen das und fordern, «mit einer echten Kreislaufwirtschaft Klima und Ressourcen zu schützen».

Girod betont, dass er die Reduktion von Abfall befürworte, doch: «Auch in den günstigsten Szenarien lassen sich höchstens dreissig bis vierzig Prozent Abfallmenge pro Kopf einsparen.» Es werde also immer Abfall geben, der verbrannt werden müsse. Die offene Frage ist allerdings, wie viel. Auch ist es für die CO2-Bilanz entscheidend, ob der Abfall aus nachhaltigen Quellen stammt, also aus Holz, oder eben wie Plastik aus Öl und Gas.

Fast scheint es, als ob die KVAs gerne noch weiter Plastik verbrennen würden. Denn inzwischen haben viele Werke im Rahmen der bisherigen Vereinbarung mit dem Bund ein Fernwärmenetz aufgebaut. Damit habe man die Zahl der Öl- und der Gasheizungen reduziert, so die Begründung. Doch nun brauchen die KVAs, um ihre Fernwärmenetze zu betreiben, immer genügend Brennmaterial – und der Heizwert von Plastik ist besonders hoch.