Boris Johnson: Der Brexit-Trumpf hat ausgedient

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Die Tage als britischer Premierminister scheinen gezählt: Boris Johnson ist endgültig zum Problem für die eigene Partei geworden, weil sich die Öffentlichkeit jetzt für seine zahlreichen Fehlleistungen interessiert.

Was hatte man denn erwartet? Dass Boris Johnson ein kompetenter, seriöser Premierminister sein würde? Der Opportunist, der mit dem Image des spassigen Tölpels Politkarriere gemacht hat? Seit Jahrzehnten weiss man, dass Johnson ein Mann ist, der routinemässig lügt, Versprechen am Laufmeter bricht, nichts gegenüber Loyalität verspürt und jede Entscheidung gemäss einem einzigen Kriterium abwägt, nämlich ob sie ihm selbst nützt.

Die Enthüllungen, wonach Johnson während des Covid-Lockdowns an Partys teilgenommen hat, kamen also kaum überraschend – aber die Entrüstung, die der Skandal in der Öffentlichkeit ausgelöst hat, ist deswegen nicht kleiner. In den vergangenen Wochen berichteten auf Social Media unzählige Leute, wie sie sich während der Pandemie von ihren todkranken Partnern, Müttern, Vätern und Freundinnen verabschieden mussten: über Zoom, am Telefon oder durch eine Fensterscheibe. Unterdessen sass man am Amtssitz des Premiers an der Downing Street 10 fröhlich beisammen, schlürfte Wein und ass belegte Brötchen.

Der Rückhalt verfliegt

Am Dienstag kündigte die Londoner Polizei an, dass sie in der Partyaffäre Ermittlungen eingeleitet hat. Der interne Untersuchungsbericht der Regierungsbeamtin Sue Gray, der die Details des Skandals offenlegen soll, ist bei Redaktionsschluss dieser WOZ noch nicht publiziert worden. Aber schon jetzt ist klar, dass Johnsons Karriere am seidenen Faden hängt – gerade einmal zwei Jahre nachdem er die konservative Tory-Partei zu ihrem grössten Erfolg seit Jahrzehnten geführt hatte.

Der Wahlsieg vom Dezember 2019 war auch ein Brexit-Triumph: Die damalige Kampagne baute ausschliesslich auf dem Versprechen, den EU-Austritt endlich umzusetzen. Und Johnson war damit erfolgreich: Die Tories gewannen eine Mehrheit von achtzig Sitzen, viele davon in ehemaligen Hochburgen der sozialdemokratischen Labour-Partei. Die Tory-Fraktion im Unterhaus sowie die konservative Presse in London wussten um alle Mankos, die Johnson anhingen – aber das war egal, denn für sie zählte einzig, dass sie mit «Boris» als Brexit-Zugtier die besten Chancen hatten, die wachsende Konkurrenz durch die rechtspopulistische «Brexit-Partei» von Nigel Farage auszuschalten.

Auch nach ihrem Wahlsieg hielten die Tories lange Zeit zu Johnson, insbesondere die «2019er», also die paar Dutzend Abgeordneten aus meist ärmeren nordenglischen Wahlkreisen, die 2019 ins Unterhaus einzogen und denen der Premierminister für ihre Region einen wirtschaftlichen Aufschwung versprochen hatte. Ende 2021 begann die Unterstützung dann aber zu bröckeln: sowohl innerhalb der Fraktion wie auch an der Basis der «Leave»-Wähler:innen. Sie kommen zunehmend zum Schluss, dass Johnson tatsächlich so inkompetent ist, wie gewarnt worden war.

Die verheissene «Brexit-Dividende», also der finanzielle Nutzen der Abspaltung von der EU, ist nirgends zu sehen. Stattdessen haben Firmen mit Lieferengpässen, Verzögerungen und zusatzlichen Kosten zu kämpfen. Auch der regionale Ausgleich ist ein Luftschloss geblieben: In einem neuen Bericht schreibt der Thinktank IPPR North, dass trotz aller Rhetorik kaum konkrete Massnahmen zu sehen seien, die das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd ausglichen. «Grossbritannien ist so geteilt wie eh und je, und die Zentralisierung wird stärker», schreiben die Autor:innen.

Ein gewöhnlicher Politiker

Dazu kamen Skandale, die dem Ansehen der Regierung geschadet haben. Johnson steht in der Kritik, weil er die finanziellen Details einer Wohnungsrenovierung nicht offengelegt hatte; weil er einem konservativen Geldgeber einen Adelstitel verlieh, obwohl seine Mitarbeiter:innen davon abgeraten hatten; weil Fragen auftauchten, wer seinen Urlaub in der Karibik finanziert hatte. Zudem hagelt es zunehmend Vorwürfe wegen eklatanter Korruption und Vetternwirtschaft bei der Vergabe öffentlicher Verträge während der Covid-Pandemie.

So hatte sich bei den Tories bereits Unbehagen breitgemacht, bevor im Dezember schliesslich der Partyskandal einschlug. Viele «Leave»-Wähler:innen, die in Johnson eine andere Art von Premierminister gesehen hatten – einen, der sich genau wie sie gegen den Establishmentkonsens stellt –, sind endgültig von ihrem Idol enttäuscht. «Jetzt scheint er wie jeder andere Politiker, der denkt, er sei wichtiger als die Wähler», analysiert die Politologin Helen Thompson im Magazin «New Statesman». Johnsons Zustimmungswerte sind in den vergangenen Monaten in den Keller gestürzt – und die Bedenken der Tory-Fraktion sind proportional dazu gewachsen. Mitte Dezember wurden deren Befürchtungen bestätigt: In einer Nachwahl verloren sie im mittleren Westen einen bislang sicheren konservativen Sitz an die liberaldemokratische Partei.

So ist Johnson heute nicht mehr die Trumpfkarte, die den Tories Erfolg verspricht, sondern ein Risiko für ihre künftigen Wahlchancen. Zu dieser Überzeugung ist auch die konservative Presse gekommen, die ihm bislang treu den Rücken gestärkt hat, jetzt aber vermehrt scharfe Worte gegen den Premierminister richtet. Es sind nicht so sehr die Verfehlungen Johnsons, die den einstigen Cheerleadern sauer aufstossen, schliesslich hielten sie über zwei Jahre lang zu ihm. Vielmehr ist es die Tatsache, dass seine Masche offensichtlich nicht mehr zieht – und er die Konservativen jetzt in Verruf bringt.