Leser:innenbriefe

Nr. 4 –

Scharfäugig werden

«Leser:innenbriefe: Handlungsspielraum zeigen», WOZ Nr. 1/2022

Ich schliesse mich gerne der Leserbriefschreiberin Anne-Sophie Tramer an: Eure Leserbriefseite ist die einzige, die ich aufschlage, ohne mich vorher innerlich zu wappnen. (Ich lese eine regionale und eine grosse ausserkantonale Tageszeitung.) Danke, WOZ! Danke den Leser:innen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich mich zu einem neueren Medienphänomen äussern, dem Geschichtenerzählen. Narrative. Allmählich nimmt das überhand. Unterhaltsame Geschichten, die Lesezeit verschlingen, ohne einen Zuwachs an Wissen beziehungsweise Zukunftskraft zu erbringen – solche Texte bringen alle! Unterhaltungsbrunz. Die meisten Medien füttern uns damit zur Übergenüge.

An die WOZ habe ich andere Ansprüche. Sie soll anspruchsvoll sein, seriös recherchieren und seriös informieren, mutig, kritisch und scharfäugig. Meine Zeitung bildet und erzieht mich. Ich will auch scharfäugig werden.

Rosemarie Imhof, Allschwil

Verbrechen auf allen Seiten

«Al-Khatib-Prozess: Ein historischer Schuldspruch», WOZ Nr. 3/2022

Es ist gut, zu erfahren, dass nun Kriegsverbrechen auch von nationalen Gerichten geahndet werden können. Dass eine Strafe droht, hilft sicher, solche Verbrechen in Zukunft zu reduzieren.

Nun warten wir aber noch darauf, dass mit demselben Mass Verbrecher aus dem befreundeten Lager zur Rechenschaft gezogen werden, beispielsweise die Verantwortlichen für Folterlager wie Guantánamo oder die Kommandeure der Scharfschützen, die vor wenigen Jahren am Gazastreifen unbewaffnete Demonstrant:innen töteten.

Hanspeter Gysin, Basel

Den Zusammenhalt fördern

«Coronaproteste: ‹Diese Vorstellung, die Menschen hätten einst im Einklang mit allem gelebt …›» , «Medizinethik: ‹Die Abwägung der Interessen wird wichtiger›» , beide WOZ Nr. 1/2022

Die WOZ schafft mit dieser Doppelseite (Interview mit dem Publizisten Andreas Speit) Gelegenheit, ungeimpfte Menschen als hinderlich und gar gefährlich darzustellen. In den vergangenen Monaten ernüchterten mich die themenbezogenen Berichte; ich vermisste ausgewogen recherchierte Ansätze. Wie so viele Medien wiederholt auch die WOZ beharrlich, dass wesentlich gemachte Messpunkte exakt wissenschaftlich erwiesen seien. Bedauerlicherweise bezieht somit auch die WOZ Stellung für Massnahmen zur einseitigen Symptombekämpfung; für das Aufspalten der Gesellschaft einerseits in «Personen mit gültigem Zertifikat» und andererseits in vermeintlich «nicht oder nicht mehr immunisierte Personen».

Als unabhängige Zeitung kann die WOZ den Zusammenhalt der geprüften Gemeinschaft fördern. Sie sollte immer wieder Raum, Zeit und Anreize zur differenzierten Meinungsbildung schaffen, nach Ursachen forschen und angemessene Massnahmen erkennen helfen.

Danke für den Denkanstoss der Medizinethikerin Tanja Krones: «Die Verbesserung der Lebensbedingungen ist viel wirksamer als eine Impfpflicht.» Meine Meinung: Ja, der Mensch als kleiner Teil der Natur könnte jetzt die Zusammenhänge wahrhaben und erkennen wollen; er alleine muss sich verantwortlich fühlen für schädigende Bedingungen, die sein Leben und Sterben wesentlich bestimmen.

Markus Tröhler, Spiegel bei Bern

Wichtig, nicht links

«Bruno Latour: Gegen die Sitzordnung von 1789», WOZ Nr. 48/2021

Ich bin mit dem Autor gleicher Meinung, dass es sich lohnt, dem Philosophen Bruno Latour «genau auf die Finger zu schauen», aus welcher Perspektive auch immer, und ja, etwas Verführerisches hat sein Denken vielleicht, mit seinen provokativen, scheinbar «lockeren Sätzen». Diese sind aber meines Erachtens immer bloss Einzelaufnahmen eines kleinen Knotenpunkts seines dicht vernetzten Werks.

Wenn sich Latour also (provokativ) erstaunt zeigt, dass sich die politische Landschaft am «obsoleten» Gegensatz von links und rechts orientiert, kann man sich verführen lassen, das als Argument gegen eine politische Positionierung auszulegen. Verfolgt man den Gedanken aber auf seinem Netzwerk weiter, findet man Latours Einsicht – sogar innerhalb des Artikels als «Schlüsselsatz» herausgehoben –, dass politische Positionen als Einstellungen funktionsgemäss auf Gewicht und Form der Welt reagieren sollen; dass das Politische, um auf sein Werk «Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen» zurückzugreifen, eben eine sich endlos ändernde kontinuierliche Einstellung benötigt, um Mehrheiten zu finden.

Nimmt man Latours gesamtes Werk als politisch wahr, werden manche Überspitzungen durchaus verständlich, als Positionierungen für eine Welt, in der und von der man leben kann, was sich inhaltlich ja fast nahtlos mit den Positionen zu Globalisierung, Klima und sozialer Gerechtigkeit der WOZ deckt.

Bezüglich der Bemerkung des Autors in der Zusammenfassung, dass Latours Kritik am Fortschritt auch den linken Fortschritt meint, stellt sich mir wirklich die Frage, was, wenn man bezüglich Klimaerhitzung zum Beispiel an die historischen Altlasten kommunistischer Umweltverbrechen denkt, so viel toller sein soll am «linken» Fortschritt. Auch ist es doch völlig klar, dass die «grüne» Neupositionierung vieler linker Parteien in der Klimakrise eine «Reaktion» ist, genau im Sinne von Bruno Latour.

Was vielleicht dem Autor und den Lesern des Artikels Latour etwas näherbringen kann, ist zu verstehen, dass Latour als Forscher einfach allergisch reagiert, wenn man zu den richtigen Ergebnissen aufgrund falscher Prämissen kommt: Eine Position als richtig zu erachten, weil sie «links» sei, ist eben eigentlich genau das. Sich «linken Inhalten» anzunähern, weil sie in der WOZ diskutiert werden, ist lohnend, nicht weil sie links sind, sondern weil sie wichtig sind, weil sie «funktionsgemäss auf Gewicht und Form der Welt reagieren». Von aussen kann diese Position dann als links oder wie auch immer bezeichnet werden – wichtig bleibt sie trotzdem.

Dominik Schlienger, Dalsbruk, Finnland