Medizinethik: «Die Abwägung der Interessen wird wichtiger»

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Auch in der Schweiz erhalten nicht alle die gleich gute medizinische Versorgung, sagt die Medizinethikerin Tanja Krones. In der Pandemie hält sie die Verbesserung der Lebensbedingungen für viel wirksamer als eine Impfpflicht.

«Aufgrund von Vorurteilen werden gewisse Gruppen diskriminiert, auch wenn die Behandelnden das überhaupt nicht wollen»: Tanja Krones. Foto: René Ruis, Keystone

WOZ: Frau Krones, an Weihnachten riefen Sie mit weiteren Schweizer Medizinethiker:innen in einem Appell zu wirksamen Massnahmen auf, um die medizinische Versorgung der gesamten Bevölkerung sicherzustellen. Der Bundesrat entschied sich an Silvester aber dagegen.
Tanja Krones: Ich mache mir wahnsinnig Sorgen um die Menschen, unter anderem auf den Intensivstationen, und um die Behandlungsteams, weil die wirklich nicht mehr können. Deshalb haben wir klinischen Ethiker:innen für diejenigen das Wort erhoben, die andere versorgen, und gesagt: «So geht es einfach nicht, wir brauchen dringend strengere Massnahmen!»

Es scheint jedoch eine gewisse Gleichgültigkeit zu geben: Alle Leute hätten ja die Chance für eine Impfung zu ihrem Schutz gehabt, jetzt müsse es normal weitergehen.
Es stimmt, wir müssen mit dem Virus leben, und gewisse soziale Einschränkungen sind extrem gravierend. Zum Beispiel, wenn es um die Freiheitsrechte für junge Menschen geht, bei denen wir tragischerweise eine Zunahme von Depressionen und Suiziden feststellen. Die Abwägung der Interessen wird also immer wichtiger, je länger die Pandemie dauert. Gleichzeitig dürfen aber die Notfall- und die Intensivstationen nicht vergessen werden, weil wir sonst an einer ganz empfindlichen Stelle unseres Gesundheitswesens ein Ausbrennen riskieren. Davon wären wir längerfristig alle betroffen.

Behindertenorganisationen oder die Krebsliga fürchten, dass gewisse Patient:innengruppen bei medizinischen Behandlungen bereits jetzt das Nachsehen haben. Ist das so?
Wir erleben tatsächlich eine spürbare Knappheit der medizinischen Versorgung, und die Sorge von Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung ist total berechtigt. Aber auch vor der Pandemie haben wir Entscheide getroffen, bei denen nicht jede:r alles bekommen hat. Nur war es nicht so offensichtlich. Wir fordern seit langem – ähnlich wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland dies vor Jahresende vom Bundestag forderte –, dass Parlament, Jurist:innen und das Bundesamt für Gesundheit sich mit der Triagefrage auseinandersetzen und schauen, wo es strukturelle Risiken für Diskriminierung im Gesundheitswesen gibt und wie die Betroffenen geschützt werden können.

Was meinen Sie mit strukturellen Risiken für Diskriminierung?
Aufgrund von Stereotypen und Vorurteilen werden gewisse Gruppen diskriminiert, auch wenn dies von den Behandelnden überhaupt nicht gewollt ist. Man weiss, dass Menschen mit tiefem Bildungsstand ein höheres Risiko für unzureichende medizinische Versorgung haben, auch alte Menschen oder solche mit Migrationsgeschichte.

Wäre das nicht ein Argument für eine Impfpflicht, die allen Menschen den gleichen Schutz böte?
Der Reflex «Wir haben doch jetzt ein Mittel und müssen es anwenden, damit alles vorbeigeht» ist völlig verständlich. Es ist möglich, dass die Impfquote mit einem Obligatorium steigen würde, aber sicher ist das nicht. Umgekehrt wissen wir zunehmend, dass sogar eine sehr hohe Quote an Geimpften alleine nicht reicht, um weitere Pandemiewellen komplett zu verhindern. Mit einer Impfpflicht würden wir eine Grenze überschreiten, denn der Staat soll Eingriffe in den Körper minimieren. Auch heute ist es so, dass Kantonsärzt:innen nur bei sehr wenigen Krankheiten, wie zum Beispiel offener Tuberkulose, Menschen gegen ihren Willen die Freiheit entziehen oder eine Zwangsbehandlung anordnen können.

Ist das Pochen auf unverhandelbare Persönlichkeitsrechte in der aktuellen Notsituation nicht einfach egoistisch?
Unter dem Deckmantel «Egoismus» werden Persönlichkeitsrechte dämonisiert und oft mit einer Art extremer neoliberaler Wirtschaftsideologie in Verbindung gebracht. Im Sinne von «Jeder darf alles, und der Staat hat nichts zu melden». So argumentiere ich natürlich nicht. Aber als Ethikerin muss ich immer die Verhältnismässigkeit prüfen. Ja, die Pandemie ist mühsam. Aber es ist auch kein Ebolavirus: Harte Triagen, wo es akut um Leben und Tod geht, konnten wir bisher zum Glück vermeiden – wir haben es gerade noch so hingekriegt. Ich glaube, bei diesem Virus ist es in der jetzigen Situation nicht angebracht, das Recht auf körperliche Unversehrtheit anzutasten.

Der Deutsche Ethikrat schätzt dies anders ein und hat sich kurz vor Weihnachten sogar für eine Ausweitung der berufsbezogenen Impfpflicht ausgesprochen, die im Frühling in Kraft treten soll.
Ich glaube tatsächlich, dass das ein Fehler ist. Es stellen sich so viele ungeklärte Fragen: Wie lange soll das Obligatorium gelten? Wie viele Boosterimpfungen werden Pflicht sein? Das wird leider nicht erklärbar sein. Wir Ethiker:innen sorgen uns ernsthaft, dass wir damit Menschen längerfristig für die gemeinsame Sache verlieren.

Sie finden aber, es gebe eine moralische Impfpflicht?
Genau. Für uns Medizinethiker:innen ist klar, dass man in der Pflicht steht, sich impfen zu lassen. Man darf aber nicht vergessen, dass es Menschen gibt, die sich nach eingehender Abwägung gegen eine Impfung entscheiden. Dies müssen wir respektieren. Wir brauchen Vertrauen in eine demokratische Struktur. Natürlich gehört zur gelebten Demokratie auch Solidarität, aber die kann man halt nicht erzwingen. Wir können nur die Bedingungen so gestalten, dass das Vertrauen in die Institutionen gestärkt wird.

Was sind das für Bedingungen?
Wir wissen aus der medizinhistorischen Forschung, dass das Verbessern der Lebensbedingungen viel mehr bringt als einzelne rein medizinische Vorkehrungen: Im 19. Jahrhundert wurde beispielsweise die Typhusepidemie in Oberschlesien durch den berühmten Arzt Rudolph Virchow untersucht, der festgestellt hat, dass die Bedingungen in den Armenvierteln verbessert werden müssten. Die Leute brauchten grössere Wohnungen und bessere Nahrung, und es brauchte Abwasserkanäle, denn die schlechten Wohn- und Lebensbedingungen waren die wesentlichen Gründe, dass Typhus dort so gewütet hatte. Diese Erkenntnis der «Sozialhygiene» hat insgesamt zur massiv gesteigerten Lebenserwartung geführt.

Wie kann man das aufs 21. Jahrhundert und die Coronapandemie übertragen?
Weil wir mittlerweile ein so hohes Niveau in der Medizin haben, vergessen wir, dass soziale Ungleichheit auch heute die Lebenserwartung senkt. Wir brauchen beispielsweise eine fundamentale Umgestaltung der Pflegeheime, weil wir dort jeden Winter das grosse Sterben haben. Grosse Wohneinheiten mit vielen vulnerablen Menschen ermöglichen Krankheitsausbrüche. Die alten Menschen stecken sich so schneller mit verschiedenen Viren an, wie jetzt mit dem Coronavirus, und sterben vor allem im Winter zuhauf – das geht nicht! Mittelfristig hat die Stärkung der Lebensbedingungen eine viel grössere Wirkung als eine Impfpflicht gegen ein Virus, das immer wieder mutiert und immer wieder neu untersucht werden muss.

Soziale Ungleichheit wird auch bei der Informationskampagne der Behörden befürchtet. Welche Gruppen werden immer noch nicht erreicht?
Diesbezüglich sind wir zurzeit blind, weil wir diese Daten einfach nicht erheben. Teilweise auch aus Angst davor, einzelne Gruppen zu stigmatisieren – was ja dann sowieso passiert ist. Es ist schmerzhaft, ernsthaft über soziale Ungleichheiten zu reden, über die Versäumnisse der Gesundheitsversorgung in Altersheimen, über eine generelle Reform des Gesundheitswesens und dass es anders finanziert werden muss.

Was meinen Sie mit der Finanzierung?
Die Spitäler, Hausärzte und Pflegeheime haben eine Fürsorgepflicht für alle. In der Pandemie haben Spitäler Millionenverluste gemacht durch das Verschieben von Eingriffen und wegen der grossen Zahl an Covid-19-Patient:innen, deren Behandlung in unserem momentanen System nicht ausreichend finanziert wird. Das geht nicht, das muss die Politik ändern.

Würden Coronafinanzhilfen an die Spitäler nicht einfach den Aktionär:innen der Unternehmen zugute kommen, die gesetzlich zu Gewinnen verpflichtet sind?
Das ist ein Problem, ja. Es hat aber auch damit zu tun, wie ein jeweiliges Spital mit seinen Finanzen umgeht. Aber dass die Spitäler Geld brauchen, ist unumstritten. Es braucht neben der Spitzenmedizin eine sehr gute Grundversorgung, um Menschen, auch wenn es viele sind, versorgen zu können. Bei uns kommt es schneller zu einer Knappheit als beispielsweise in Deutschland, weil die Schweiz pro Einwohner:in weniger Intensivplätze hat. Wir bräuchten Ausbildungsplätze und Ressourcen, was kostet und weniger Profit bedeutet. Vor allem muss auch die Bevölkerung mitreden können, wie begrenzte Ressourcen verteilt werden.

In Form eines Bürger:innenrats für das Gesundheitswesen?
Ähnliches gibt es etwa bereits in Schweden, wo die Debatten um Priorisierung und Rationierung im Gesundheitsbereich schon lange und viel transparenter geführt werden als hier. Die Schwed:innen haben ein Institut, das das Gesundheitswesen bei der Priorisierung berät. Politiker:innen sind daran beteiligt, aber auch Bürger:innen, die Leitlinien mitverfassen, damit vulnerable Menschen in der Medizin keinen Nachteil erfahren.

Immerhin kann die Diskussion über grundlegende strukturelle Probleme des Gesundheitssystems als positiver Effekt der Pandemie gesehen werden.
Definitiv. Dass man erkennt, dass arme Menschen früher sterben und auch stärker von Covid betroffen sind – auch in der reichen Schweiz –, ist nicht zynisch, sondern aufklärerisch. Wie wir mit Knappheit im Gesundheitswesen umgehen, ist eine der wichtigsten Fragen, und dabei geht es ja auch um globale Gerechtigkeit und darum, wie Ressourcen weltweit verteilt werden. Weil wir nur gemeinsam die Pandemie überhaupt in den Griff kriegen können.

Tanja Krones (52) ist Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) und leitet als Ärztin und Soziologin am Unispital Zürich die Klinische Ethik. Diese unterstützt sowohl Behandlungsteams als auch Patient:innen und deren Angehörige bei komplexen Wertfragen in der Medizin.