Al-Khatib-Prozess: Ein historischer Schuldspruch

Nr. 3 –

Im weltweit ersten Prozess zu Verbrechen des syrischen Regimes hat ein deutsches Gericht einen hochrangigen Geheimdienstler zu lebenslanger Haft verurteilt. Viele Exilsyrer:innen hoffen, dass es damit einen juristischen Dominoeffekt auslöst.

Freude über das Urteil gegen Anwar R: Exilsyrer:innen vor dem Gericht in Koblenz nach der Verhandlung. Foto: Martin Meissner, Keystone

Ruham Hawasch ist mit dem Urteil zufrieden. «Es geht nicht darum, ob Anwar R. nun für zehn oder fünfzehn Jahre ins Gefängnis muss», sagt sie. «Es geht darum, dass mit diesem Urteil gerichtsfest bewiesen ist, dass das Regime systematisch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht. Wir müssen nicht mehr beweisen, dass die Assad-Diktatur ein Folterregime ist.» Hawasch hat das Grauen im berüchtigten Foltergefängnis al-Khatib im Zentrum von Damaskus überlebt. Im Prozess gegen Anwar R., der dort eine Zeit lang die Befehlsgewalt hatte, war sie eine der Nebenkläger:innen.

Das Oberlandesgericht in Koblenz hat R., 58 Jahre alt, ehemaliger Oberst des syrischen Geheimdiensts, am letzten Donnerstag wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. Er ist demnach für 27 Morde, Folter in mindestens 4000 Fällen sowie für Körperverletzungen, Vergewaltigungen und sexuelle Nötigung verantwortlich. R. hat nicht selbst gefoltert. Aber weil er von Ende April 2011 bis Anfang September 2012 – ausschliesslich um diesen Zeitraum ging es im Prozess – für das Al-Khatib-Gefängnis verantwortlich war, gilt er als Mittäter.

Weltrechtsprinzip statt Den Haag

In seinem Urteil führt das Gericht aus, dass in Syrien schon seit Jahrzehnten gefoltert wird. Seit im März 2011 die Menschen für mehr Demokratie auf die Strasse gingen und das Regime von Präsident Baschar al-Assad dies brutal zu unterdrücken versuchte, handle es sich dabei um «einen systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung». Das Oberlandesgericht Koblenz stellt damit fest: Die Gräueltaten, die das syrische Regime an der eigenen Bevölkerung begeht, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Bereits im Fall von R.s vormaligem Nebenangeklagten Eyad A., der im Februar 2021 in einem abgetrennten Verfahren zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde, hat es so entschieden. Es war das weltweit erste Urteil dieser Art.

Eigentlich gehörten die Verbrechen in Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag. Doch dessen Tätigwerden haben Russland und China durch ein Veto im Uno-Sicherheitsrat verhindert. So blieb für die Anklage nur die nationale Justiz. Dass ein solcher Prozess in Deutschland möglich ist, liegt am Weltrechtsprinzip im deutschen Völkerstrafgesetzbuch: Demnach können hier auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgt werden, wenn Täter und Opfer keine deutschen Staatsangehörigen sind.

Das Bundeskriminalamt ermittelt bereits seit gut zehn Jahren im Auftrag der Bundesanwaltschaft zu Syrien, zunächst in einem sogenannten Strukturverfahren, dann auch gegen einzelne Personen. Gegen Dschamil Hassan, den ehemaligen Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdiensts, hat der Bundesgerichtshof 2018 einen internationalen Haftbefehl erlassen. Hassan hält sich weiter in Syrien auf, doch er konnte sich mehrfach unbehelligt im Libanon medizinisch behandeln lassen. Anwar R. hingegen wurde verhaftet, weil er desertierte und nach Deutschland kam.

R. arbeitete in der Abteilung 251 des syrischen Geheimdiensts, die für die Sicherheit in Damaskus und Umgebung zuständig ist. Er war dort Leiter der Unterabteilung für Ermittlungen, zu der auch das Gefängnis al-Khatib gehört. Dreissig bis vierzig Mitarbeiter seien ihm unterstellt gewesen, darunter Vernehmer und Wärter, die die Folter durchführten, heisst es im Urteil. Der Angeklagte habe schon vor seinem Eintritt in den Geheimdienst gewusst, dass dort gefoltert wurde und Menschen ums Leben kamen. «Er entschied sich, das Regime zu unterstützen.»

Es bleibt ein langer Weg

Rechtskräftig ist das Urteil noch nicht, die Verteidigung kündigte Revision beim Bundesgerichtshof an. Ihrer Ansicht nach ist Anwar R. stellvertretend für das syrische Regime verurteilt worden. Dessen persönliche Schuld sei nicht ersichtlich. R. hat während des Prozesses geschwiegen, aber in einer Einlassung, die seine Anwälte verlasen, alle Vorwürfe bestritten.

Viele Exilsyrer:innen hoffen nun auf eine Art Dominoeffekt, dass also diese eine Verurteilung weitere nach sich ziehen wird. Diesen Mittwoch begann vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt am Main ein zweiter Prozess, in dem sich ein Mitarbeiter des Assad-Regimes verantworten muss: Angeklagt ist ein Arzt, der in einem syrischen Militärkrankenhaus an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen sein soll. In Frankreich hingegen hat ein Pariser Gericht jüngst die Eröffnung eines ähnlich gelagerten Verfahrens abgelehnt. Die Begründung: Syriens Strafgesetzbuch kenne den Rechtsbegriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» nicht, auf dem die Anklage beruht.

Patrick Kroker, der gemeinsam mit zwei Kollegen Ruham Hawasch und dreizehn weitere Nebenkläger:innen vertreten hat, sagt: «Das Urteil gegen Anwar R. ist nur ein erster Schritt zur Aufarbeitung der Verbrechen in Syrien – doch dieser erste Schritt ist oft der schwierigste.» Es bleibe das Ziel, hochrangige Mitarbeiter von Baschar al-Assad wie den ehemaligen Luftwaffengeheimdienstchef Hassan vor Gericht zu bringen.

«Wir haben einen langen Weg vor uns», sagt auch Nebenklägerin Ruham Hawasch nach der Urteilsverkündung. «Aber für uns Betroffene sind dieses Verfahren und der Tag heute ein erster Schritt in Richtung Freiheit, Würde und Gerechtigkeit.»