Long Covid: «Wir müssen Sie zusammen­brechen sehen»

Nr. 38 –

Menschen, die wegen einer Covid-Infektion oder anderer Ursachen an ME/CFS leiden, müssen schier unüberwindbare Hürden meistern, um überhaupt eine IV-Rente beantragen zu können. Das ist die Geschichte von Svenja Brucker*.

Symbolbild: eine Schaufensterpuppe hängt Wäsche auf
Sie kann Sportwäsche auf Hüfthöhe aufhängen, normale Kleider sind zu schwer: Svenja Brucker* spürt Long Covid jeden Tag.   

Svenja Brucker* schickt Sprachnachrichten, zerlegt ihre Geschichte darin in kleine Teile. Zwischen den Nachrichten muss sie Pausen von Stunden oder Tagen einlegen. Für ein längeres Gespräch reicht die Konzentrationskraft der Frau, die seit drei Jahren an Long Covid leidet, schon lange nicht mehr. An schwierigen Tagen, sagt ihr Mann Aaron Wermuth*, könne sie nicht einmal die Kaffeetasse halten, die er ihr morgens ans Bett bringe. Die beiden sind in den Vierzigern, haben Kinder und gehören zum Mittelstand.

Bruckers Wecker läutet um 6 Uhr, zum Aufstehen in der Lage ist sie aber erst um 8 Uhr. Spätestens um 9.30 Uhr muss sie sich zum ersten Mal eine halbe Stunde hinlegen, sonst fällt sie für den Rest des Tages in ein Tief.

An guten Tagen kann sie eine Viertelstunde am Stück häkeln. Oder die Zutaten für ein Brot in die Backmaschine füllen. Einen Teig zu kneten, ist für ihre Gelenke zu schmerzhaft. Sie kann Sportwäsche auf Hüfthöhe aufhängen, normale Kleider sind zu schwer, Wäscheleinen über Kopf unerreichbar. An sehr guten Tagen kann sie für zwanzig Minuten eine Freundin einladen. Nach zwanzig Minuten Büroarbeit ist sie völlig ausgelaugt.

Brucker hat die Diagnose Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic-Fatigue-Syndrom (ME/CFS), die schwerste Ausprägung einer Post-Covid-Erkrankung. Hauptsymptome sind starke Erschöpfung und Kraftlosigkeit, dazu können weitere Beschwerden kommen. Bei Brucker sind es Gelenk- und Muskelschmerzen, Konzentrationsprobleme, Reiz- und Berührungsempfindlichkeit sowie Einschlafstörungen. Die genauen Mechanismen der Krankheit sind noch ungeklärt. Neuere Studien weisen auf eine Autoimmunerkrankung und eine schwere Störung von Stoffwechselfunktionen hin. Jede Überanstrengung im kognitiven wie im körperlichen Bereich führt bei Menschen mit ME/CFS zu einer Verschlechterung des Zustands, im schlimmsten Fall dauerhaft.

Psychologisierung der Beschwerden

In der Schweiz gibt es keine offiziellen Zahlen zu ME/CFS und anderen Long-Covid-Erkrankungen. Brigitte Hilty Haller, grüne Grossrätin aus Bern, die sich für Betroffene einsetzt, schätzt die Zahl der Long-Covid-Erkrankten hierzulande unter Berücksichtigung der internationalen Kriterien auf 300 000, derer mit ME/CFS auf 60 000. «Von Letzteren sind 60 Prozent arbeitsunfähig, 25 Prozent liegen daheim im Bett oder können das Haus noch knapp verlassen», sagt Hilty Haller, gestützt auf eine Studie aus den USA von 2015.

Bruckers Coronainfektionen verliefen fast alle mild. Nach der zweiten Infektion zeigten sich sonderbare Symptome: eine ausbleibende Menstruation, grosse Mühe mit Umstrukturierungen am Arbeitsplatz, Lärmempfindlichkeit, körperliche Krisen. Der Hausarzt konnte sich keinen Reim darauf machen, alle Check-ups deuteten auf eine kerngesunde Patientin hin. Der Erste, der sie krankschrieb, war der Psychiater. Er meldete Brucker in einer Burn-out-Klinik an. Dort stand Aktivierungstherapie auf dem Programm, was sich kontraproduktiv auswirkte. Die psychologischen Angebote mündeten in die psychiatrische Diagnose, sie habe ein Burn-out und leide unter Anpassungsstörungen.

Auf die richtige Spur führte sie erst eine Bekannte, die als Ärztin in einer Long-Covid-Sprechstunde tätig war. Dort attestierte man Brucker endlich die tatsächliche Krankheit: ME/CFS. Dieser Umweg ist kein Einzelfall, sondern die Regel: Bis ME/CFS-Betroffene die richtige Diagnose erhalten, müssen sie durchschnittlich elf Ärzt:innen aufsuchen und erhalten 2,6 Fehldiagnosen, wie eine Schweizer Studie von 2022 ergab.

Auch die Krankentaggeldversicherung liess Brucker psychiatrisch begutachten, obwohl der Befund bereits vorlag. «Die Psychologisierung der Beschwerden ist weitverbreitet», sagt Chantal Britt von Long Covid Schweiz; die Diagnosestellung sei schwierig. «Die Mehrheit hat irgendwann gehört, dass ihre Symptome nur psychisch seien.» Die Nichtanerkennung ihrer Leiden schlägt Betroffenen dann tatsächlich auf die Psyche: Eine Schweizer Studie zeigte, dass der stärkste Faktor, der zu Selbstmordgedanken bei Menschen mit ME/CFS beitrug, darin bestand, «dass man ihnen sagte, die Krankheit sei nur psychosomatisch».

Die grösste Belastungsprobe steht Brucker jedoch noch bevor. Im Frühling 2022, nachdem sich ihr Zustand immer noch weiter verschlechtert hat, meldet sie sich bei der IV an. Im Herbst 2022 kommt der Vorbescheid der IV: Es bestehe «kein Anspruch auf Rentenleistungen», es liege «keine gesundheitliche Beeinträchtigung vor, die [Brucker] langandauernd in ihrer Arbeitsfähigkeit einschränkt». «Für uns war das wie ein Schlag ins Gesicht», erinnert sich Wermuth. Damals hat er bereits seine Leitungsfunktion im Beruf aufgegeben, um sich nebst Vollzeitjob, Haushalt und Kinderbetreuung besser um seine Frau kümmern zu können. Brucker hat seit einem Jahr das Haus kaum mehr verlassen. Bald wird sie sich einen elektrischen Rollstuhl zulegen.

Nach dem negativen Vorbescheid nimmt sich das Paar einen Anwalt, der einen Einwand verfasst. Ein halbes Jahr später bietet die IV Brucker zu einem polydisziplinären Gutachten auf. Ein solches wird bei komplexeren Krankheitsbildern angeordnet, wenn der Gesundheitsschaden organisch nicht nachgewiesen ist. Das ist bei allen der Fall, die eine milde Akutinfektion hatten. «Über neunzig Prozent der betroffenen Frauen waren nie hospitalisiert», sagt Britt, «und können daher keine Schäden an Herz, Lunge oder Gehirn nachweisen.» Zudem würden in der Schweiz spezifische Tests, die organische Auffälligkeiten feststellen könnten (etwa Untersuchungen auf Mikrogerinnsel und Autoantikörper), im Gegensatz zum Ausland nicht gemacht. Ein vielversprechender Bluttest, der bei Long-Covid-Erkrankten ein verändertes Proteinprofil nachweist (siehe WOZ Nr. 4/24), steckt noch in der Forschungsphase.

Die Folgen der IV-Revision

Die aufwendigen Befragungen bei den polydisziplinären IV-Gutachten bedeuten für Long-Covid-Betroffene eine schier unüberwindbare Hürde. «Viele erleiden dadurch eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustands, weil die Belastung durch Anreise und Abklärungen zu gross ist», sagt Britt. «Sie ‹crashen› während der Befragungstermine, die bis zu fünf Stunden dauern können.» Einige wollten dieses Risiko nicht eingehen, weil die Chance, eine Rente zu erhalten, gering sei, und stellten erst gar keinen Antrag. «Wir kennen viele Personen, die durch Long Covid in die Sozialhilfe abrutschen. Einige wohnen jetzt bei den Eltern oder brauchen ihr Erspartes auf.»

Brucker und Wermuth besprechen sich mit einem Arzt und einem Anwalt. Beide sagen, sie solle zum Termin gehen, um zu zeigen, wie schlecht es ihr gehe. «Die müssen sehen, wie sie zusammenbricht.» Thomas Pfiffner, Vizepräsident der IV-Stellen-Konferenz, erklärt dazu: «Die IV kennt ME/CFS schon lange. Wie bei allen Versicherten waren wir auch bei diesen Betroffenen schon vor der Pandemie gründlich und kritisch bei der Prüfung des Rentenanspruchs, und diese Praxis wurde von den Gerichten immer wieder gestützt.» Die Versicherten hätten eine Mitwirkungs- und Schadenminderungspflicht. Sie sollen also so viel wie möglich dazu beitragen, wieder ins Erwerbsleben zu finden. «Mit der 5. IV-Revision von 2008 wurde der Grundsatz ‹Eingliederung vor Rente› deutlich verstärkt, das ist politisch so gewollt», so Pfiffner. Das zu ändern, liege nicht im Ermessen der IV-Stelle, sondern sei gegebenenfalls Aufgabe der Politik.

Bis dahin gilt für ME/CFS-Betroffene, was bei psychisch Kranken im IV-Verfahren schon lange bekannt ist: Wer sein Problem bei der Befragung nicht live demonstrieren kann, dem wird nicht geglaubt, dass er nicht kann, sondern unterstellt, dass er nicht will.

Weil die Gutachterstelle nach dem Zufallsprinzip zugeteilt wird, um Gefälligkeiten zu verhindern, muss die Schwerkranke 200 Kilometer weit reisen. Sie sitzt mit verbundenen Augen und Ohrstöpseln auf dem Rücksitz des Autos. Nach einer Stunde Fahrt kann sie sich bei einer Freundin für drei Stunden hinlegen. Nach einer weiteren Stunde Fahrt gehts ins Hotel. Wermuth schirmt seine Frau von Lärm und Licht ab und bringt ihr die Mahlzeiten ans Bett. Am nächsten Morgen folgt die erste Befragung.

«Die Gutachter:innen setzten je zwei Befragungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an und stellten Svenja zwischendurch ein Ruhezimmer zur Verfügung», sagt Wermuth. Trotzdem muss sie während der Befragung weinen vor Erschöpfung, schläft zwischendurch mit dem Kopf auf dem Tisch oder liegt am Boden. «Auch wenn die meisten Beteiligten rücksichtsvoll waren, war die Situation demütigend», so Wermuth. Am zweiten Tag lautet eine der gestellten Aufgaben, drei gehörte Wörter zu wiederholen. Brucker schafft es nicht, sie kann nicht mehr.

Nach der Rückreise zeigen sich Überlastungssymptome: Eineinhalb Wochen kann Brucker nur liegen. Sie leidet unter Kopfweh, Übelkeit, Schwindel, Zittern, Gehirnnebel, Seh- und Wortfindungsstörungen. Für einen zweiten, eintägigen Gutachtertermin muss sie später erneut quer durch die Schweiz reisen. Dort bekommt sie den brutalen Satz noch einmal zu hören, diesmal aus dem Mund einer begutachtenden Ärztin: «Es ist wichtig, dass Sie hier sind, denn wir müssen Sie zusammenbrechen sehen.»

Fehlende Anerkennung

Inzwischen hat sich Svenja Brucker von den IV-Terminen erholt – auf tiefem Niveau. Sie nimmt diverse Präparate, die ihre Symptome lindern. Medikamente zur Ursachenbekämpfung gibt es noch nicht. Brucker und Wermuth feiern die kleinen Dinge, die noch möglich sind. In der Sonne auf dem Balkon einen Kaffee trinken. Am Waldrand eine Viertelstunde auf der Bank sitzen und den Vögeln zuhören. Doch der Alltag bleibt ein Balanceakt. Wermuths Tag beginnt um 5.45 Uhr und endet zwischen 22 und 23.30 Uhr, nachdem er noch etwas vorgekocht oder die letzte Wäsche aufgehängt hat.

Brucker wurde von der IV inzwischen hundertprozentige Arbeitsunfähigkeit attestiert. Damit gehört sie zu den wenigen Menschen mit ME/CFS, denen bis jetzt eine Rente zugesprochen wurde: Laut letzten Zahlen des Bundes erhielten 3,5 Prozent der Long-Covid-bedingt Angemeldeten eine solche, wobei viele Verfahren noch andauern. Die IV-Maximalrente liegt bei 2450 Franken im Monat. Weil sie nur Teilzeit gearbeitet hat, fällt Bruckers Rente tiefer aus. Dank der Kinderrenten und des Einkommens ihres Mannes geht es finanziell knapp auf.

«Was ich mir wünsche», sagt sie in einer der letzten Sprachnachrichten, «ist, dass wir nicht vergessen werden. Dass die Krankheit weiter erforscht wird und an Therapiekonzepten gearbeitet wird, damit ich auf Heilung hoffen kann.» Es sei absurd, dass sie als Patientin fast sämtliches Fachwissen mit zum Hausarzt bringe und Studien lese, weil es an kompetenten Anlaufstellen mangle. «Und es braucht die Anerkennung der Gesellschaft, dass diese Erkrankung existiert, auch wenn man es den Betroffenen meist nicht ansieht.»

In Bruckers Umfeld gibt es Menschen, die ihre Lage begriffen haben. Sie bringen Essen vorbei, bieten Fahrdienste an oder übernehmen den Fensterputz. Und wissen, dass sie zum Dank nicht zum Kaffee eingeladen werden, weil das die Kranke an den Rand der Erschöpfung bringen würde. Es gibt aber auch solche, die glauben, dass sie ihre IV-Rente erschlichen habe, und die sagen: «Betroffene müssen halt auch ein wenig wollen.»

* Name geändert.