Politische Theorie: Kein Aufstand ist auch keine Lösung
Alternativen zur Katastrophe: Angesichts drängender Krisen bringt der deutsche Soziologe Klaus Dörre Pflichtlektüre für alle, die ökologische, gewerkschaftliche und demokratische Kämpfe zusammenbringen wollen.
Klaus Dörre kommt in der deutschen Wissenschaftslandschaft eine Ausnahmerolle zu. Einerseits ist der 1957 geborene und in Jena lehrende Soziologe den Gewerkschaften immer eng verbunden gewesen, andererseits beteiligt er sich massgeblich an der Postwachstumsdebatte. Gewissermassen als Summe dieser Auseinandersetzungen hat Dörre nun den Essay «Die Utopie des Sozialismus» vorgelegt. Zentrale These: Wir befinden uns auf dem Weg in eine verheerende ökologisch-ökonomische Zangenkrise – und müssen deshalb dringend wieder über Systemalternativen nachdenken.
Dörre ist sich dabei bewusst, dass es eine ungute Tradition des linken Katastrophismus gibt. Doch er skizziert recht überzeugend, worin sich die aktuelle Lage von früheren Krisen unterscheidet. Die Zangenkrise bestehe darin, dass sowohl die gesellschaftlichen als auch die Naturverhältnisse auf Grenzen zuliefen. Auf der einen Seite sorgen technologische Produktivitätssteigerungen dafür, dass Produktionskosten fallen und Konsumgüter tendenziell billiger werden. Dadurch steigt zwar der Güterreichtum, doch gleichzeitig wird es auch komplizierter, mit klassischen Investitionen Gewinne zu erwirtschaften. Das Kapital weicht daher in die Spekulation aus oder versucht – wie in der IT-Branche –, Monopole zu errichten. Beides hat keinen gesellschaftlichen Nutzen, verschärft aber die Ungleichheit.
Der Motor der Zerstörung
Die andere Seite der Zangenkrise ist ökologischer Natur. Dörre zeichnet hier noch einmal nach, warum der Kapitalismus stets mit der sogenannten Landnahme einhergeht: Die Erschliessung nicht kapitalisierter Räume war eine Voraussetzung für die hohen Wachstumsraten der Vergangenheit. Heute jedoch sind die Folgen dieser Expansion nicht mehr zu übersehen. Ein emblematisches Beispiel ist die Abholzung tropischer Wälder: Ihre Verwandlung in Palmöl- und Sojaplantagen generiert enormes Wachstum, bedeutet aber auch katastrophale Zerstörung.
Wie könnte eine Alternative aussehen? Für Dörre ist das grosse Defizit der Postwachstumsdebatte, dass der Motor der Zerstörung nicht richtig identifiziert wird. Die ökologische Krise habe nicht in erster Linie mit Lebenseinstellungen von Menschen zu tun, die «immer mehr wollen», sondern mit dem Handlungsprinzip des Kapitals. Oben sind in unserer Gesellschaft diejenigen, die Vermögen besitzen und auch weiterhin vermehren. Wer daran etwas ändern will, muss die Eigentumsverhältnisse in den Blick nehmen.
Dörre bezieht sich daher auf das Konzept des Sozialismus, will den Begriff allerdings von seinem früheren Gebrauch, der noch unter dem Eindruck der industriellen Revolution stand, unterschieden wissen. «Sozialistische Ideen des 21. Jahrhunderts müssen ihre Überzeugungskraft aus der Notwendigkeit einer Nachhaltigkeitsrevolution beziehen (…), aus der Kritik an wirtschaftlich-technischer Überproduktivität», schreibt er.
Damit begibt sich Klaus Dörre auf ein Terrain voller Widersprüche. Er propagiert einen Sozialismus, der den Stoffwechsel mit der Natur reduzieren will, mahnt zugleich aber an, die Interessen der Industriearbeiterschaft müssten verteidigt werden. Eine ähnliche Haltung zeigt er auch hinsichtlich der postulierten Utopie: Er plädiert für einen radikalen Gegenentwurf, skizziert dann aber ein Reformprogramm, das sich an den «Nachhaltigkeitszielen» der Vereinten Nationen orientiert. Eine armutsfreie, friedliche Weltgesellschaft mit Geschlechtergleichstellung, stark reduzierter Ungleichheit und nachhaltiger Produktion – das ist Dörres nachhaltiger Sozialismus.
Man könnte hier einwenden, der Autor betreibe Etikettenschwindel, weil ein solches Programm kaum in einen radikalen Bruch münden wird. Doch für Dörres Vorgehensweise gibt es auch ein sehr überzeugendes Argument: Geschichte wird nicht durch die radikalen Entwürfe Einzelner, sondern durch gesellschaftliche Kämpfe und Allianzen vorangetrieben.
Sein Entwurf zielt somit auf demokratische Ermächtigung ab. Mit Verweis auf den 2019 verstorbenen US-Soziologen Erik Olin Wright definiert Dörre Sozialismus als Stärkung der «Zivilgesellschaft» gegenüber «Ökonomie» und «Staatsmacht». Wrights Darstellung ist alles andere als eindeutig, doch der These dahinter lässt sich kaum widersprechen: Wenn es um egalitäre, solidarische Lebensverhältnisse geht, ist der zentrale Widerspruch nicht der zwischen Markt und Staat, sondern der zwischen Kapital und Demokratie. Es gilt daher, die Gesellschaft so zu ermächtigen, dass sie die Kontrolle über die Ökonomie wie auch den Staat erlangt.
Hier sieht Klaus Dörre auch einen Anknüpfungspunkt zur ökologischen Debatte. In dieser ist allgemein akzeptiert, dass die Wirtschaft in einem gesteuerten Prozess umgebaut werden muss. Dörre wirbt hierbei für «Transformations- und Nachhaltigkeitsräte», die durch allgemeine Wahlen oder Losverfahren besetzt werden könnten und den Umbau demokratisch planen sollen.
Ähnlich wie Beat Ringger und Cédric Wermuth in ihrem Buch «Die Service-Public-Revolution» geht Dörre also davon aus, dass wir die Instrumente für den radikalen Gesellschaftsumbau bereits in der Hand halten. Der Ausbau kollektiver Infrastrukturen, das Zurückdrängen des Profitprinzips und die Expansion des «demokratischen Selbsteigentums» sind die Schlüssel, die ökologische und die solidarische Ausrichtung der Inhalt der Transformation. Anders ausgedrückt: Was bei der Bahn funktioniert (aber demokratisiert werden müsste), könnte auch auf die Pharmaindustrie übertragen werden. Öffentliche Unternehmen würden dann Güter und Dienstleistungen für den gesellschaftlichen Verbrauch produzieren, in politischen Debatten würden wir ökologische und soziale Ziele der Produktion definieren.
Radikal reformistisch
Was die Frage angeht, wie dieser Umbau durchgesetzt werden soll, argumentiert Dörre wie ein Reformkommunist der siebziger Jahre: Organisierung, soziale Kämpfe und Augenmass sollen die Entwicklung anstossen. Diese Einschätzung lässt ihn allerdings hart mit Bewegungen ins Gericht gehen, die seiner Ansicht nach zu stark polarisieren. Den Aktivist:innen von Ende Gelände etwa wirft er vor, mit ihren Besetzungen von Tagebauminen nicht nur Beschäftigte, sondern auch Teile der Umweltbewegung zu verschrecken. Im 20. Jahrhundert allerdings ist die Kraft zu Reformen eher selten – oder zumindest nie ausschliesslich – aus «ordentlicher» Organisationsmacht erwachsen. Wichtiger als die numerische Grösse von Gewerkschaften und Demonstrationen war der Überschuss der sozialen Kämpfe. Erst die Möglichkeit des radikalen Bruchs bahnte den Reformer:innen den Weg.
Das weiss Dörre auch: ohne Aufstände und Revolutionen kein Linksreformismus. Genau deshalb aber braucht es die von ihm eingeforderte Dialektik von Utopie und konkreter Politik: Nur wer sich vorstellen kann, dass alles anders sein könnte, wird Erfolge durchsetzen. Und nur wer konkrete Veränderungen möglich macht, kann etwas radikal Anderes in Bewegung setzen. Klaus Dörres Verdienst ist es, dass er sich seit vielen Jahrzehnten auf diesem mit Widersprüchen durchsetzten Feld bewegt.
Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus. Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution. Matthes &Seitz. Berlin 2021. 345 Seiten. 35 Franken