Flug AF006, gestartet in Paris, landet am 10. März 2021 in New York. Und am 24. Juni nochmals – mit denselben Fluggästen, die glauben, es sei März. Das US-Militär setzt sie noch am Flughafen in einem Hangar unter Quarantäne, das Pentagon aktiviert umgehend «Protokoll 42», ein Szenario für unwahrscheinliche Notfälle, das im Nachgang zu 9/11 von brillanten Mathematiker:innen entwickelt wurde. Als Teil davon lässt das FBI hinter den Kulissen alle Fluggäste anschleppen, die drei Monate zuvor ausgestiegen sind und sich nun mit Kopien ihrer selbst konfrontiert sehen.

Aus dieser «Anomalie» entwickelt Hervé Le Tellier in seinem gleichnamigen Roman ein komplexes Geflecht von psychologischen und philosophischen Fragen. Der literarische Umgang mit diesen existenziellen Dilemmata ist so geistreich wie witzig und kommt als schwebend-heitere Dystopie daher – auch wenn die aktuellen gesellschaftspolitischen Anspielungen mitunter etwas durchsichtig wirken und die popkulturellen Verweise zunehmend überborden. Denn natürlich haben sich die Mathenerds mit dem «Protokoll 42» einst nur einen durchtriebenen Scherz geleistet, den das vereinigte US-Beamtentum trotzdem haarklein befolgt und in seiner Unbedarftheit sogar noch weiterspinnt.

«Die Anomalie» ist bereits in 34 Sprachen übersetzt worden, hat sich millionenfach verkauft und soll auch noch verfilmt werden. Sein Autor hat dafür sogar die höchste literarische Weihe Frankreichs erhalten, den Prix Goncourt. Dessen Jury setzt sich überwiegend aus Männern gehobenen Alters zusammen; und vielleicht trifft Le Tellier deren Geschmack damit besonders gut, wie raffiniert er in der Figur des Schriftstellers Victor Miesel auch mit sich selber kokettiert?

Herausragendes Talent offenbart der Autor ohne Zweifel in der Zeichnung seiner unterschiedlichen Figuren, denen er auf jeweils nur wenigen Seiten nuancierte Charakterzüge und Biografien verleiht. Aus ihnen schimmern die Dramen, die im Lauf der Geschichte aber leider etwas unter der Oberfläche der Satire abtauchen.

Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Roman. Aus dem Französischen von Romy und Jürgen Ritte. Rowohlt. Hamburg 2021. 350 Seiten. 31 Franken