Filmfestspiele Berlin: Überall schwirren die Gedanken und die Musik
Anarchische Uhrwerke und ein Tumor wie ein Fels im Kopf: Die Berlinale wartet mit starken Schweizer Filmen auf. Die filmische Offenbarung jedoch kommt aus China.
Der Ort ist vertraut, der Blick auf ihn ist es nicht. In Cyril Schäublins «Unrueh» sind nicht nur die Perspektiven aus dem Lot geraten, sondern auch die Zeit selbst. In der Uhrmacherstadt St. Imier um 1877 zeigen die Uhren je nach Kontext verschiedene Zeiten an. Wer über diese bestimmt, verfügt auch über die Möglichkeiten des Zusammenlebens.
Aber die Entkopplung von Zeit und Raum legt auch neue soziale Konstrukte frei. In «Unrueh» sind es die jurassischen Anarchist:innen, die sich gegen die ökonomische Eroberung der Zeit zur Wehr setzen. Doch der Film öffnet sich der Interpretation von allem, was danach kommt, und dem, was möglich gewesen wäre, wenn sich ein anderes Konzept von Gemeinschaft und Zeitökonomie durchgesetzt hätte. «Unrueh» ist ein Schweizer Film, wie man ihn nicht oft erlebt, der es aber in seiner Sperrigkeit wohl auch schwer haben wird.
Gleich drei Filme mit Schweizer Regie haben es in die beiden Wettbewerbe der Berlinale geschafft, die dieses Jahr wieder physisch stattfinden konnte. Von den kritischen Stimmen zu dieser Entscheidung (vgl. «Gegen die Wand?» ) ist am Festival selbst kaum etwas zu hören. Die Schutzmassnahmen sind streng, funktionieren aber gut. Die Kinosäle werden maximal zur Hälfte im Schachbrettmuster gefüllt, Journalist:innen müssen sich unabhängig von ihrem Impfstatus jeden Tag testen lassen. Angenehm ist das nicht, aber dank der sehr guten Organisation durchaus erträglich. Als ein britischer Journalist in seinem Unmut darüber, dass einem die Plätze zugeteilt werden, auf der Bühne des Berlinale-Palasts zum Aufstand anstiften wollte, wurde er ausgebuht.
Keinen Schritt näher
Ein wenig passt das zum diesjährigen Wettbewerb, wo die Filme sich auffällig oft damit beschäftigen, wie sich einzelne Elemente einer Gemeinschaft verhalten, wenn diese von innen oder aussen bedroht wird. Vieles bewegt sich im oberen Durchschnitt, man darf also von einem guten bis sehr guten Jahrgang sprechen. Die grösste moralisch-ästhetische Entgleisung leistet sich Isaki Lacuesta mit seinem Bataclan-Drama «Un año, una noche» – eines jener unrühmlichen Werke, die glauben, mit der Nachinszenierung jüngst vergangener Gewaltereignisse etwas zu deren Verarbeitung beizutragen. Ansonsten versprüht in diesem Jahr sogar Ulrich Seidl so etwas wie Optimismus, wenn er den absurden, aber nicht unsympathischen Schnulzensänger und Callboy Richie Bravo in «Rimini» selbst am unscheinbarsten aller möglichen Orte – einem Seidl-Film – Vergebung erfahren lässt.
Von den beiden Schweizer Filmen im Hauptwettbewerb ist «La Ligne» von Ursula Meier überraschenderweise der weniger interessante. Das Drama um eine zerrüttete Beziehung zwischen einer Mutter (Valeria Bruni Tedeschi) und ihrer zu Aggressionen neigenden Tochter überzeugt zwar durch seine rohe Emotionalität und die Darstellung der Tochter durch Stéphanie Blanchoud. Wenn das Drehbuch aber auf der metaphorischen Kraft der titelgebenden blauen Linie beharrt, die die jüngere Tochter im Hundert-Meter-Radius ums Haus gezogen hat, um das gerichtlich verfügte Kontaktverbot gegen ihre Schwester zu markieren, wirkt das Drama am Ende gar konstruiert.
Andere verfahren da sanfter und, weil die Entwicklung der Figuren weniger vom Drehbuch erzwungen wirkt, authentischer. «Les Passagers de la nuit» mit Charlotte Gainsbourg erzählt angenehm gelassen von einer Familie, die im Paris der 1980er eine ziellose Jugendliche bei sich aufnimmt, wobei die Dialoge gegenseitige Rücksichtnahme und Fürsorge nicht behaupten, sondern bloss im Tonfall mitschwingen lassen.
Den eigenen Figuren erst einmal zuzuhören, statt über sie zu urteilen: Dieses Prinzip verfolgt auch der Kanadier Denis Côté in «Un Été comme ça». Im Rahmen eines Retreats werden hier drei hypersexuelle Frauen zwei Therapeut:innen gegenübergestellt. Was manchen Kritiker:innen missfiel, zeichnet den Film gerade aus: Wie die Therapeut:innen erwartet auch das Drehbuch von den Frauen keine «Entwicklung». Côté lässt seine Figuren einfach mal machen, in unterschiedlichen Konstellationen aufeinander reagieren – um am Ende die Feststellung nahezulegen, dass «normal» und «abnormal» Konstrukte sind. Und wer Hypersexualität, wie andere neurologische Abweichungen auch, als «Störung» fasst, unterzieht sie damit einer Bewertung, die sich moralisch kaum begründen lässt.
Überall schwirren die Gedanken
Auch die elektrischen Wechselwirkungen in «Avec amour et acharnement» von Claire Denis, der grossen Filmphilosophin des Begehrens, könnte man etwas überspitzt als krankhaft interpretieren. Die Erzählung von einer alten Beziehung, die in eine neue eindringt, mag nicht die originellste sein, aber bei Claire Denis spielte sich das Wesentliche schon immer auf einer anderen Ebene ab, zwischen den verschiedenen Oberflächen: Haut interagiert mit Haut, und überall dazwischen schwirren die Gedanken und die Musik. Im Übrigen hat noch kein Film die Pandemie eleganter mit der filmischen Realität verknüpft, als es Denis hier wie beiläufig gelingt.
Krankheit zum Dritten, so real und unverrückbar wie der Felsen, der in Michael Kochs «Drii Winter» im ersten Bild prangt. Fünf mal drei Zentimeter gross ist der Tumor im Hirn des Urner Bergbauern Marco (Simon Wisler). Er könne es gar nicht glauben, wie schön er es mit ihr habe, sagt er am Anfang noch zu seiner Frau Anna (Michèle Brand), und das Schicksal lässt sich nicht zweimal bitten. Der Tumor beraubt den stillen Hünen langsam seiner Impulskontrolle. Marco wird immer ungestümer, seine Arbeitsfähigkeit leidet, es kommt zu einer bedrohlichen Situation mit Annas Tochter. Der Film erzählt davon, wie die Gemeinschaft der relativ abgeschiedenen Berggemeinde Anna dazu drängt, sich von Marco zu lösen, und wie sich Anna dieser Erwartung schliesslich verweigert. «Drii Winter» lebt von einer bildgewaltigen Inszenierung und der Präsenz seiner Laiendarsteller:innen. Auch wenn einige irritierende Motive etwas ablenken und Koch ästhetisch nicht immer ganz konsequent bleibt: ein beeindruckendes Werk.
Eine tief fürsorgliche Partnerschaft
Nicht bloss beeindruckend, sondern sehr nahe jenem Bereich, wo Begriffe wie «Meisterwerk» oder «filmische Offenbarung» angemessen klingen, ist schliesslich «Return to Dust». Der Film des jungen Chinesen Li Ruijun beginnt als naturalistische Studie der ländlichen Gesellschaft im modernen China und entwickelt sich über zweieinhalb Stunden zu einer tief berührenden Parabel über die Arbeit am eigenen Glück. Ein Aussenseiter und eine Aussenseiterin werden von ihren Familien mehr oder weniger zwangsverheiratet, und niemand erwartet mehr von ihnen, als dem Dorf kein schlechtes Gewissen mehr zu bereiten.
Doch dann beginnen die beiden, eine tief fürsorgliche Partnerschaft zu entwickeln, sodass eine einfache, aber reale Zufriedenheit möglich scheint in einem Land, das mit despotisch verordneter Höchstgeschwindigkeit nach der kapitalistischen Moderne strebt. «Return to Dust» besteht aus einer minimalistischen Abfolge von Tableaus, die meist bäuerliche Arbeit zeigen: auf dem Feld, am Haus, am Wohl des anderen. Die Dialoge zwischen den beiden bestehen hauptsächlich aus Sprichwörtern und aus sanften Ermahnungen an den anderen, die Sache etwas ruhiger anzugehen. Als stetiger Begleiter kündet der treue Arbeitsesel von einer Zeitform, die von keiner Uhr gemessen werden kann.