Joseba Sarrionandia: «In der Literatur konnte alles neu erfunden werden»
Als vermeintlicher Terrorist verfolgt, als Dichter verehrt: Im Baskenland gilt Joseba Sarrionandia seit seiner Flucht aus dem Gefängnis als Kultfigur. Dass seine Bücher immer populärer wurden, bekam er im Exil gar nicht mit.
Unter anderen Voraussetzungen wäre der Name Joseba Sarrionandia vermutlich international bekannt und das Leben des Schriftstellers mit hochkarätiger Besetzung verfilmt worden. Im Baskenland gehört der 1958 geborene Schriftsteller zu den meistgelesenen Autor:innen, und der ihm gewidmete Punkrocksong «Sarri Sarri» der Band Kortatu ist fester Bestandteil jedes Kneipenabends. Doch der Umstand, dass sich Sarrionandia nie von seiner politischen Vergangenheit distanzierte, hat ihm den Zugang zum spanischen und damit auch zum internationalen Literaturbetrieb verstellt.
Auf der Dachterrasse in Havanna, wo wir uns treffen, wirkt der schüchterne Mann mit dem schelmischen Lachen aber nicht besonders unglücklich darüber. Schon die Popularität im kleinen Baskenland ist offenkundig zu viel: «Für mich war Schreiben immer ein innerer Prozess. Jahrelang habe ich nicht mitbekommen, dass mich jemand liest.» Er habe kein einziges seiner Bücher selbst öffentlich vorgestellt, erzählt er. «Als mir ein Jugendlicher irgendwann erzählte, er habe einen Text von mir im Schulunterricht durchgenommen, war ich ziemlich entsetzt.»
Diese eigenartige Distanz zwischen dem Autor und seinen Leser:innen hat eine profane Erklärung. Als sein erstes Buch erschien, sass Sarrionandia bereits im Gefängnis, und nach einem spektakulären Ausbruch im Jahr 1985 führte er fast 32 Jahre lang ein klandestines Leben. Einen beträchtlichen Teil davon lebte er so abgeschieden, dass ihn nicht einmal Nachrichten der Familie erreichten: «Vom Tod meines Grossvaters habe ich sieben Monate später zufällig aus einer alten Tageszeitung erfahren.»
Avantgarde auf Baskisch
Sarrionandias Lebensgeschichte liest sich wie eine Zusammenfassung des baskischen Konflikts. Politisiert worden sei er bei einer Demonstration, auf der er als Zwölfjähriger zufällig landete. In Burgos standen 1970 sechzehn Basken vor einem Kriegsgericht der Franco-Diktatur. «Ich war Milch holen im Dorf, und da ist mir eine Demo über den Weg gelaufen.» In mehreren Romanen verarbeitete er dieses Erlebnis.
Weil die Franco-Diktatur die baskische Sprache ebenso verfolgte wie Gewerkschaftsarbeit und linke Parteien, waren die Übergänge zwischen Literatur, Alltag und Politik in Sarrionandias Jugend fliessend. «Unser wichtigstes Anliegen war, Avantgardeliteratur auf Baskisch zu machen. Dabei hatte ich Euskara in einer illegalen Sprachschule lernen müssen. Meine Grossmutter redete zwar Baskisch mit mir, aber sprechen konnte ich es nicht.» Die Unterdrückung der Sprache durch den spanischen Staat eröffnete aber auch Möglichkeiten: «In der Literatur konnte alles neu erfunden werden. Es gab keine Standards und kaum Normen.»
Mit dem Schriftsteller Bernardo Atxaga und dem Sänger Ruper Ordorika gründete der erst zwanzigjährige Sarrionandia damals die Literaturzeitschrift «Pott», in der sowohl eigene Texte als auch Übersetzungen moderner Lyrik ins Baskische erschienen. Ungefähr zur selben Zeit schloss sich Sarrionandia auch der Untergrundorganisation Eta («Baskenland und Freiheit») an, die sich eine sozialistische Revolution im Baskenland auf die Fahnen geschrieben hatte. Im Nachhinein findet er eine sehr pragmatische Erklärung dafür: «Nach Francos Tod 1975 hat sich erst einmal wenig geändert. Zwar wurden linke Parteien legalisiert, aber die alten Franquisten blieben an der Macht. Auf Demonstrationen und Polizeiwachen wurden jetzt sogar noch mehr Menschen umgebracht als zuvor. Wir wollten einen Bruch mit der Diktatur, und die Aktionen der Eta schienen uns das richtige Instrument zu sein, um Druck auszuüben und Verhandlungen zu erzwingen.»
Besondere Bedeutung misst Sarrionandia der Entscheidung, die ihn schon bald ins Gefängnis brachte, aber nicht bei: «Ich war politisch aktiv – wie viele in meiner Generation.» Tatsächlich bewegten sich damals Zehntausende Jugendliche im Dunstkreis der baskischen Untergrundorganisation.
Flucht in der Lautsprecherbox
1980 wird Sarrionandia verhaftet und wegen Raub und Entführung zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Weil er unter anderem Gedichte von Hans Magnus Enzensberger in Baskische übersetzt hat, besucht ihn der deutsche Schriftsteller 1985 im Gefängnis. «Eigentlich sollte es nur ein persönliches Treffen sein», erzählt er. «Aber Enzensberger brachte den Korrespondenten von ‹El País› und einen Fotografen mit. Ein paar Monate später hat er dann einen Artikel über den Besuch veröffentlicht.» Sarrionandia lacht, wirkt jedoch ein bisschen verbittert: «Ich wollte den kritischen Enzensberger kennenlernen, den Autor von ‹Der kurze Sommer der Anarchie›. Aber in dem von ihm verfassten Artikel wirkte er eher wie ein Chronist der herrschenden Ideologie.»
Darüber, was die Öffentlichkeit am meisten interessiert, nämlich seine Flucht aus dem Gefängnis, will Sarrionandia auch nach fast vierzig Jahren nicht sprechen. Nach einem Konzert im Gefängnis werden er und ein Mitgefangener, in einer Lautsprecherbox versteckt, aus der Haftanstalt geschmuggelt. «Wenn ich die Ereignisse in einem Interview schildern würde, bekämen sie eine Bedeutung, die sie nicht hatten. In erster Linie war es gefährlich. Wenn sie uns gekriegt hätten, hätten sie uns erschossen. Wir haben sehr viel Glück gehabt.»
Als Schriftsteller war Sarrionandia zu diesem Zeitpunkt im Baskenland bereits bekannt; nun erlangte er Kultstatus. Doch davon bekam er nicht viel mit. Sarrionandia versteckte sich einige Zeit in Frankreich und Algerien, bis er schliesslich auf Kuba landete, wo er bis 2017 mit falscher Identität lebte, aber jedes Jahr ein neues Buch veröffentlichte. Das bekannteste ist der 2001 veröffentlichte Roman «Lagun Izoztua», der in drei Zeitformen – Vergangenheit, Präsens und Futur – über das Leben von nach Lateinamerika geflüchteten Eta-Mitgliedern erzählt. Unter dem Titel «Der gefrorene Mann» ist der Roman auch auf Deutsch erschienen.
Endlich zurück in Durango
Die grösste Anerkennung jedoch erhielt Sarrionandia mit dem 700-seitigen Essay «Moroak gara behelaino artean?» (Sind wir Mauren im Nebel?), für den er 2010 den Premio Euskadi, den wichtigsten baskischen Literaturpreis, in der Sparte Essay gewann. Ausgehend von der Lage der nordafrikanischen Berber:innen im spanisch kolonisierten arabischen Marokko des 19. Jahrhunderts, setzte er sich darin mit dem Themenkomplex Sprache, Identität, Diversität, Unterdrückung, Assimilation und Imperialismus auseinander.
Doch nach einer Kampagne der spanischen Medien sperrte die Autonomieregierung das Preisgeld. Obwohl die Sarrionandia zur Last gelegten Delikte zu diesem Zeitpunkt längst verjährt waren, galt er weiterhin als Terrorist. Erst vergangenes Jahr – zehn Jahre nachdem die Eta die Waffen niedergelegt hatte – konnte Sarrionandia in seine Heimatstadt Durango zurückkehren. Er tat dies vor allem, um seine Mutter in den letzten Lebensjahren begleiten zu können. Nach Kuba, wo er längst Familie hat, reist er nur noch als Tourist.
Und wie blickt er auf sein Exil hier zurück? «Ich habe in Kuba nie das revolutionäre Paradies gesehen, das es für andere war. Ich bin hier gelandet, weil ich vor Folter und Gefängnis geflohen bin. Aber ich mag die Leute, es ist ein gastfreundliches Land. Kuba hat Probleme, aber die europäischen Gesellschaften haben auch welche. Andere, aber genauso schwerwiegende.» Desillusioniert oder gar verbittert wie viele alt gewordene Linke wirkt er nicht. Aber dass er, seit er die Anonymität preisgegeben hat, ständig auf der Strasse angesprochen wird, gefällt ihm gar nicht. Sarrionandia steht nicht gern im Mittelpunkt. Der autobiografische Roman über Untergrund, Flucht und Exil, den so viele seiner Fans gern lesen würden, wird auch weiter auf sich warten lassen.
Raul Zelik hat zusammen mit Petra Elser den Roman «Der gefrorene Mann» ins Deutsche übersetzt, erschienen 2007 im Blumenbar-Verlag.