Olympische Winterspiele: Gold für den Genossen

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Der Waadtländer Postbote Édouard Scherrer wurde 1924 als Steuermann eines Viererbobs erster Schweizer Olympiasieger bei Winterspielen. Indirekt half ihm dabei, dass er zuvor wegen seiner kommunistischen Gesinnung entlassen worden war und so mehr Zeit zum Trainieren hatte.

«Bobfahren ist wie die Politik, man darf nicht zu stark bremsen»: Steuermann Eduard Scherrer mit Alfred Neveu und den Brüdern Alfred und Heinrich Schläppi im Bob «L ’Acrobate» an den Olympischen Winterspielen 1924 in Chamonix. Foto: Snippet of History

Bobrennen waren schon bei den ersten Olympischen Winterspielen im französischen Chamonix beliebt. Die Zuschauer:innen schätzten den Wettkampf auf der gefährlichen Natureisbahn. Unter den neun teilnehmenden Mannschaften gehörte das Team des Schweizer Steuermanns Édouard Scherrer – ein Postbote und aktiver Kommunist aus dem Kanton Waadt – zu den Aussenseitern.

Ausrüstung und Vorbereitung der Mannschaft waren nach heutigen Massstäben abenteuerlich. Scherrer hatte den Bob im vorangegangenen Winter an der Tombola der Société fédérale de gymnastique, dem Turnverein, von Leysin gewonnen. Es handelte sich um einen hölzernen Schlitten mit Steuerrad. Seit dem ersten Schnee trainierte Scherrer mit dem gleichaltrigen Alfred Neveu (1890–1975) sowie den jüngeren Brüdern Alfred (1898–1981) und Heinrich Schläppi (1905–1958) auf der Strasse von Leysin nach Le Sépey. In Chamonix fuhr das Team aus Leysin erstmals auf einer richtigen Bobbahn. Dennoch dominierte es am 2. und 3. Februar den Wettbewerb in drei von vier Läufen mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von sechzig Kilometern pro Stunde. Es sollte bis 1936 die einzige schweizerische Goldmedaille an Olympischen Winterspielen bleiben. Im Siegerinterview soll Scherrer gesagt haben: «Bobfahren ist wie die Politik, man darf nicht zu stark bremsen.»

Der sportliche Briefträger

Olympische Winterspiele waren anfänglich kein Grossereignis. Lange hatte sich das Internationale Olympische Komitee (IOK) gegen deren Durchführung gestemmt. In Chamonix fand vom 25. Januar bis 5. Februar 1924 eine «Wintersportwoche» unter dem Patronat des IOK statt, die diese erst nach einer Statutenänderung nachträglich als erste Olympische Winterspiele anerkannte. Athleten und wenige Athletinnen aus sechzehn Ländern starteten in neun Disziplinen. Umstritten blieb, was dazugehörte und was nicht. Aus Sicht des IOK war die Militärpatrouille, die das Schweizer Team gewann, nur ein Demonstrationswettbewerb. Alpine Skirennen fehlten noch.

Édouard Scherrer wurde 1890 im waadtländischen Ormont-Dessus am Fuss des Bergmassivs Les Diablerets geboren. Im nahen Leysin begann er 1906, bei der Post zu arbeiten, und wurde 1910 zum Briefträger, zwei Jahre später zum Paketboten befördert. Seine grosse Leidenschaft blieb der Sport. Er gehörte zu den Pionieren der Société fédérale de gymnastique in Leysin, die er in den 1910er Jahren präsidierte und zu der er später immer Verbindungen aufrechterhielt. Als Sportler gewann er zum Beispiel 1921 den Lauf von Leysin nach Le Sépey und zurück. Ebenfalls lebenslänglich blieb er den Guttemplern, die den Alkoholismus bekämpften, verbunden.

Ein Horror vor Kompromissen

Sein Einstieg in die Politik erfolgte 1917, als er ins Gemeindeparlament von Leysin gewählt wurde und in die Sozialdemokratische Partei (SP) eintrat. Dort politisierte er bald auf dem linken Flügel. So beteiligte er sich im Juni 1920 in Olten an der «Konferenz der 54» der Parteilinken, die die SP in die Kommunistische Internationale führen wollte. Seit ihrer Gründung Anfang März 1921 gehörte Scherrer der Kommunistischen Partei der Schweiz (KPS) an. Auf der KPS-Liste schaffte er auch die Wiederwahl ins Gemeindeparlament im November des gleichen Jahres. Bereits seit dem Februar sass er im Vorstand der Sektion Lausanne des Verbands eidgenössischer Postangestellter. Der katholische Publizist René Leyvraz (1898–1973), der 1917/18 in Leysin arbeitete, beschrieb ihn zehn Jahre später als einen «energischen und loyalen Mann, auf den man mit Sicherheit zählen konnte und der immer mit einer herzlichen Schroffheit beispielhaft grosszügige Unterstützung leistete. Gleichzeitig aber hatte er Horror vor Kompromissen und war voller revolutionärer Formeln. Ein Kämpfer, der aber keineswegs zur blinden Zerstörung neigte.»

Der Rechten war ein Kommunist im Bundesdienst ein Dorn im Auge. Als Scherrer 1923 vor dem Militärsanatorium in Leysin einen Aufruf zur Teilnahme an der Maikundgebung verteilte, schrieb der Kommandant einen Rapport. Deshalb intervenierte das Eidgenössische Militärdepartement auf höchster Ebene beim Post- und Eisenbahndepartement. Die Postdirektion veranlasste eine Untersuchung, die die Verteilung des Aufrufs bestätigte. Ansonsten hielt sie aber fest, dass Édouard Scherrer seine Arbeit gut erledige und von Vorgesetzten und Kunden keinerlei Beschwerden gegen ihn vorlägen. Aber in der Freizeit betrieb er kommunistische Propaganda, was die regionalen Behörden zu mehreren Vorstössen bei der Postdirektion bewogen hatte. Deshalb wurde Scherrer im Herbst entlassen, wobei der Lohn drei Monate weiterbezahlt wurde. Der Erwerbslose nutzte die Zeit unter anderem zum Training mit seinem Bob.

Nach dem begeisterten Empfang der Olympiasieger in Leysin packte Scherrer erneut seinen Koffer und reiste nach Moskau, wo er die KPS am 5. Weltkongress der Kommunistischen Internationale vertrat. Später arbeitete er unter anderem als Holzfäller und zog schliesslich nach Lausanne. Dort übernahm er 1926 das Sekretariat des Bau- und Holzarbeiterverbands. Im Frühling 1929 löste die Sektion ohne Zustimmung der Zentrale einen Bauarbeiterstreik aus, der nach elf Wochen erfolglos abgebrochen werden musste. Die Polizei nahm wegen Zwischenfällen mit Streikbrechern einige Streikende und den Sekretär fest. Scherrer wurde zu hundert Tagen Haft verurteilt. Die Gewerkschaft entliess ihn wegen Missachtung der Reglemente.

Optimistisch und ohne Hass

Im folgenden Jahr zog Scherrer nach Genf. Sein Leben verdiente er sich fortan als Hausierer, der mit grossen Koffern Damenunterwäsche durchs Waadtland zog. Nach dem blutigen Angriff der Armee auf eine sozialistische Kundgebung im November 1932 wurde Scherrer erneut verhaftet unter dem Vorwand, er habe an der Beerdigung des im Kugelhagel umgekommenen Henri Jacob Fürst den Regierungsrat bedroht. Im Frühling 1939 erfolgte seine Wahl ins Genfer Stadtparlament, von dem er zwei Jahre später zusammen mit zwei anderen Kommunisten ausgeschlossen wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg trat Édouard Scherrer der Partei der Arbeit bei, bekleidete dort aber keine führende Position mehr. Seit den sechziger Jahren nahm ihn die Presse zunehmend nicht mehr als Kommunisten wahr, sondern als einen Olympiasieger, der die letzten Jahre im Altersheim von Choulex verbrachte. Bei seinem Tod 1972 hielt die Lokalzeitung «Echo du Petit Lac» fest, er sei noch sehr lebendig gewesen, habe von seiner Jugend erzählt und stolz Fotos und Dokumente gezeigt. Die Waadtländer Schriftstellerin Julia Chamorel (1916–2009) charakterisierte ihn in ihren Jugenderinnerungen 1983 wie folgt: «Mit seinem runden Gesicht, seinen rot umrandeten klaren Augen, seiner sanften Stimme, seiner andauernden Fröhlichkeit und seinem gutmütigen Kommunismus, optimistisch und ohne Hass, wurde er von allen, die ihm nahe kamen, geliebt.»