Olympiaboykott 1936: «Und morgen der Sieg»

Nr. 51 –

Seit die USA angekündigt haben, die Spiele in Peking 2022 diplomatisch zu boykottieren, wird auch über vergangene Proteste debattiert. Die Spiele der Arbeiter:innenbewegung 1936 gehen dabei meist vergessen: Statt zu Hitlers Propagandaveranstaltung reisten auch Schweizer Arbeiterjodler:innen nach Barcelona.

Fest des Arbeiter:innensports: Die «Volksolympiade» war eine Gegenveranstaltung zu Hitlers Spielen in Berlin. Foto: Getty

Am 20. Juli 1936, einem regnerischen Montagmorgen, trafen sich am Bahnhof Zürich sechzehn Fussballer, neun Schwimmerinnen, zehn Leichtathleten, drei Nationalteams in Ballsportarten sowie zahlreiche Vertreter:innen regionaler Mannschaften. Sie alle waren im Schweizerischen Arbeiter-Turn- und Sportverband (Satus) organisiert. «Mit dem Billet im Sack, 3. Klasse, für 38 Franken», so steht es in der Verbandszeitung «Satus-Sport», wollte auch der spätere Satus-Vizepräsident Ernst Bernhardsgrütter nach Barcelona reisen. Die Internationale Arbeitersportbewegung hatte zur «Gegenolympiade» zu Hitlers Propagandaspielen in Berlin eingeladen.

Die Eröffnungsfeier am Sonntagabend war bereits vorüber. Den ersten Einsatz am Dienstag wollte die Delegation aber nicht verpassen. Ungeduldig sahen sie dem Treffen mit den Arbeiterkamerad:innen aus anderen Ländern entgegen. Doch plagte sie eine bange Frage: Wie ist die politische Lage in Spanien?

Vier Tage zuvor hatte der Staatsstreich des Militärs gegen die Zweite Spanische Republik begonnen. In Spanisch-Marokko stationierte Armee-Einheiten unter General Franco putschten, von NS-Deutschland assistiert, gegen die gewählte Madrider Volksfrontregierung – der Spanische Bürgerkrieg hatte begonnen. Am Eröffnungstag der Spiele war es in Barcelona zu blutigen Strassenkämpfen zwischen putschenden Armee-Einheiten und Arbeiter:innenmilizen gekommen. Kurz bevor die Satus-Delegation den Zug besteigen wollte, kam der Befehl der Leitung aus Bern: «Es wird nicht gefahren.» Für Bernhardsgrütter und seine Genoss:innen war das Abenteuer vorüber, bevor es begonnen hatte. Sie leisteten sich «ein paar schöne Tage im Tessin».

Für achtzehn Arbeiterjodler:innen aus Basel kam die Absage jedoch zu spät. Das Organisationskomitee hatte sie eingeladen, bei der Eröffnungsfeier aufzutreten, so waren sie bereits am Samstag abgereist. Nachdem sie am Sonntagmorgen die spanische Grenze passiert hatten, fuhr der Zug dreizehn Kilometer vor Barcelona nicht mehr weiter. Die Gewerkschaften hatten den Generalstreik ausgerufen.

Die Basler Jodler:innen hatten zwei Tage und Nächte in einem Vorort von Barcelona festgesessen, wie ein mit dem Kürzel Argus zeichnender Jodler später im «Satus-Sport» schilderte. Sie erlebten mit, wie der «Volkszorn zwei Kirchen und andere katholische Häuser zerstörte». Unter bewaffnetem Schutz spanischer Arbeiter wurden sie anschliessend mit einem Car nach Barcelona in ihre Unterkunft geschleust. Weitere 3000 Sportler:innen aus 22 Ländern hatten sich angemeldet. Dazu 8000 aus Spanien. Aus Frankreich kamen gar bürgerliche Sportteams, zudem deutsche und italienische Exilteams aus Paris.

Das Zusammentreffen war als «flammender Protest gegen Hitlers Olympiade in Berlin» geplant. Wer, wenn nicht die Internationale Arbeiterbewegung, sollte diesen Protest organisieren? Und wo, wenn nicht in Katalonien und seiner Hauptstadt Barcelona, wo das «arbeitende Volk heldenhaft gegen die soziale Unterdrückung gekämpft hatte, sollte die Volksolympiade stattfinden?», fragte Argus im «Satus-Sport». Der Protest ging als «Olimpiada Popular», eben als Volksolympiade, in die Geschichte ein.

Widerstand formiert sich zögerlich

Barcelona hatte sich 1930 vergeblich um die Austragung der Olympischen Sommerspiele für das Jahr 1936 bemüht. Das Internationale Olympische Komitee (IOK) vergab beide Spiele nach Deutschland: im Winter nach Garmisch-Partenkirchen, im Sommer nach Berlin. Der schwarze US-Amerikaner Jesse Owens sollte seine grossartigen Leistungen im rassistischen Deutschland und nicht auf Barcelonas Hausberg Montjuïc erzielen.

Trotz Hitlers menschenverachtendem Regime hatte sich der Widerstand im Vorfeld nur zögerlich formiert. Grossbritannien war das totalitäre NS-System doch noch lieber als der Kommunismus. Das britische Olympische Komitee, das vor allem aus Aristokraten bestand, wies aus Furcht vor der roten Revolution die Boykottaufrufe zurück und stellte gar beachtliche Mittel für die Teilnahme an den Spielen in Berlin bereit. Nach anfänglichem Zögern folgte auch die französische Volksfrontregierung des sozialistischen Ministerpräsidenten Léon Blum dem britischen Beispiel. Kurz vor der Weltausstellung 1937 in Paris wollte sie es sich mit Deutschland nicht verderben. Diese Haltung nahm auch die Schweiz ein.

Zum Widerstand riefen anfänglich nur einige Intellektuelle wie Heinrich Mann auf: «Warum soll die Olympiade eigentlich noch immer in Berlin sein? Das gehört unter die schweren Fälle der Verirrung von Geist und Gemüt … Macht Gegenolympiaden in allen Hauptstädten der Welt … Sportler, vereinigt euch, fern von Berlin, zu einer Olympiade der Menschlichkeit und des Friedens», schrieb er. Spanien war jedoch das einzige Land, das Hitlers Olympia boykottierte.

So waren die Arbeitersportler:innen die Einzigen, die den Kampf gegen die NS-Spiele aufgenommen hatten. Nach dem Erhalt der Einladung für die Olimpiada Popular schrieb die Satus-Geschäftsleitung im «Satus-Sport» vom 9. Juni: «Werktätiges Volk aller Länder! Beteilige dich an allen Veranstaltungen und Sportfesten, die die Volksolympiade vorbereitet!» Diese verspreche ein Weltereignis zu werden, war man sich etwas später gar sicher. Den «sporttreibenden Massen» solle vor Augen geführt werden, «dass nicht der zu einem Geschäft gewordene chauvinistische Sport, der auf der sensationellen Vorführung von Stars fusst, zu Fortschritt und kultureller Entwicklung führt». Die Volksspiele sollten zeigen, «dass diese Aufgabe nur die Volkssportbewegungen erfüllen können, die ihre Wurzeln in der breiten arbeitenden Masse haben».

Die Spiele in Barcelona waren nicht die ersten ihrer Art: 1925 hatte eine erste «Arbeitersport-Olympiade» in Frankfurt am Main stattgefunden, 1931 eine in Wien. Nach der Gründung des ersten Arbeitersportverbands 1874 in der Schweiz war der Arbeiter:innensport bis Anfang der 1930er Jahre zu einer starken Bewegung herangewachsen: Mehr als zwei Millionen Menschen trainierten damals in den verschiedenen europäischen Verbänden – die Sportfeste zogen Massen an. Treibende Kraft war Deutschland – wo der NS-Staat jedoch ab 1933 die Arbeiter:innensportvereine aufgelöst und deren Vermögen konfisziert hatte.

Die Hoffnung wird nicht erfüllt

Argus und seine Kamerad:innen gerieten mitten in den «Abwehrkampf des spanischen Volkes gegen die aufständischen Generäle». Auf der Fahrt vom Vorort Barcelonas ins Stadtzentrum sahen sie «überall Barrikaden» und hatten ständig «Schiessereien auszuweichen». Die Bevölkerung «grüsste sie mit Jubel und erhobener Faust». Ihre Unterkunft an der Plaça de Catalunya lag mitten auf dem Kampfgelände vom Wochenende. Auf diesem Platz, so berichtete Argus weiter, «haben viele Arbeiter ihr Leben für die Erhaltung der Republik geopfert». Inzwischen hatten sich die Kämpfe nach Westen verlagert. «Tausende von Arbeitern und Frauen holten sich ein Gewehr, einen Helm und einen mit Lebensmitteln gefüllten Beutel, und in endlosen Zügen und von Tausenden begrüsst, verliessen sie die Stadt, um in Autocars nach Saragossa zu eilen.» Auch mindestens 200 Arbeitersportler:innen griffen zu den Waffen, darunter die Basler Anarchistin und Schwimmerin Clara Thalmann. Sie ging mit marxistischen Milizen an die Front.

Den Basler Arbeiterjodler:innen stand der Sinn nicht nach bewaffnetem Kampf. Sie verbrachten die Zeit beim «fröhlichen Beisammensein, beim Musizieren und Tanzen». Als sie wieder nach Hause wollten, war dies auf dem Landweg jedoch nicht mehr möglich. So bestiegen sie ein Schiff nach Marseille, von wo sie nach zehnstündiger Zugfahrt die Schweiz erreichten. Die Volksspiele waren geplatzt, die «faschistischen Horden wüteten». Für Argus blieb die Hoffnung: «Aber morgen, das ist der Wunsch, das heisse Sehnen aller Sozialisten, aller Arbeiter und Arbeitersportler der Welt, folgt der Sieg, der endgültige, grosse Sieg.»

Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Berliner Spiele im August 1936 sind die ersten, die im Rundfunk übertragen werden. Leni Riefenstahls Propagandafilm wird von vielen als Meisterwerk gelobt, die internationale Presse ist von den Spielen begeistert. Deutschland gewinnt zudem die meisten Medaillen, was Hitler als Beweis für dessen Überlegenheit sieht. Nur Wochen vor dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 vergibt das IOK die Winterspiele erneut nach Garmisch-Partenkirchen. Am 22. November 1939 teilt Deutschland dem IOK mit, dass die Spiele wegen des Kriegs nicht stattfinden werden.

Barcelona bis Los Angeles

Die USA und weitere Staaten haben angekündigt, wegen Chinas Menschenrechtsverletzungen an den Uigur:innen keine diplomatischen Delegationen an die Winterspiele 2022 nach Peking zu schicken. Falls sie das auch durchsetzen, wird das nicht der erste Boykott dieser Art sein. Die Spiele 1956 in Melbourne wurden aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn von zahlreichen Ländern boykottiert. Aus Protest gegen den Eingriff Grossbritanniens am Suezkanal blieben auch Ägypten, Libanon und Irak den Spielen fern.

An den Spielen in Montreal 1976 fehlten die afrikanischen Staaten, die damit gegen die Apartheid in Südafrika protestierten. 1980 boykottierten die USA und viele andere die Spiele in Moskau – als Reaktion auf den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Vier Jahre später, bei den Spielen in Los Angeles, zahlten es ihnen die Sowjets heim. Oft vergessen wird der Boykott von Hitlers Spielen 1936 in Berlin. Die Internationale Arbeitersportbewegung organisierte damals zum ersten und letzten Mal in der olympischen Sportgeschichte in Barcelona gar eine «Gegenolympiade».