Ukraine-Krise: Die Stille der Strasse
Obwohl in der Ukraine Krieg droht, wird in Europa kaum dagegen demonstriert. Warum nur?
Auf den ersten Blick ist es eigenartig: Der russische Präsident Wladimir Putin fährt seit Wochen an der Grenze zur Ukraine Truppen, Artillerie und Panzer auf, worauf die USA mit der Entsendung von Soldat:innen nach Deutschland, Polen und Rumänien reagieren – es droht Krieg. Doch anders als beim Rüstungsrennen in den achtziger Jahren oder beim US-Einmarsch im Irak 2003 geht in Europa kaum jemand für den Frieden auf die Strasse.
Während des Vietnamkriegs in den sechziger Jahren und als die Nato später mit dem sogenannten Doppelbeschluss entschied, atomar bestückte Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren – und die Sowjetunion kurz darauf in Afghanistan einmarschierte –, war der Protest riesig: Ab 1981 demonstrierten in Zürich, Berlin oder Den Haag Zehn- bis Hunderttausende für den Frieden. Das Gleiche wiederholte sich, als US-Präsident George Bush 1991 in Kuwait einmarschierte und erneut 2003, als sein gleichnamiger Sohn den Irak überfiel. Warum bleibt es heute so still?
Gegen die imperialistischen USA
Anfang der achtziger Jahre stand im Westen das eigene Leben auf dem Spiel. Die beiden Atommächte USA und Sowjetunion drohten, die jeweils andere Bevölkerung auszulöschen. Diese unmittelbare Bedrohung sei ein wichtiger Antrieb für die Bewegung gewesen, sagt Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. «Die Menschen stellten sich gegen eine Politik, die sie selber als Tote in Kauf nahm.» Sicher sei es den Leuten auch um die Menschen in der Sowjetunion gegangen – aber die Angst um die eigene Bevölkerung sei zentral gewesen.
Diese unmittelbare Bedrohung erkläre auch die Breite der damaligen Allianz, sagt Claudia Kemper, Historikerin am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte in Münster, die zur Friedensbewegung forscht: «Es engagierten sich Marxisten, Gewerkschafter, unpolitische Lokalvereine, Konservative und sogar Militärs.» Die Bedrohung des eigenen Lebens habe diesen Leuten einen gemeinsamen Nenner geliefert.
Heute scheint das eigene Leben, trotz weiterhin riesiger Atomarsenale, nicht unmittelbar gefährdet. Putins drohender Einmarsch in der Ukraine wäre zumindest vorerst ein weiterer Stellvertreterkrieg zwischen Grossmächten – Kriege, die Europa vor allem indirekt über die Flüchtlinge erfährt, die hier Schutz suchen.
Eine gewisse Rolle spielte die eigene Bedrohung auch 2003: Eineinhalb Jahre nachdem die Terrororganisation al-Kaida zwei Flugzeuge in das World Trade Center gesteuert hatte, war die Angst gross, dass die US-Invasion im Irak dem Dschihadismus weiteren Auftrieb verleihen und zu Anschlägen in Europa führen würde – was sich später als begründet erweisen sollte. Wichtiger war jedoch: Wie im Vietnamkrieg, beim Nato-Doppelbeschluss und der Kuwaitinvasion wurde der Westen 2003 als klarer Aggressor gesehen. Bush griff den Irak ohne echte Beweise für Massenvernichtungswaffen und ohne Uno-Mandat an, um unter anderem die Kontrolle über Ölfelder zu erlangen. Goetschel: «Die Leute demonstrierten weniger für den Irak als gegen die liberale, imperialistische Weltordnung der USA.»
Heute erscheint der Westen weniger als Aggressor. Natürlich betreibt auch er harte Machtpolitik: Statt mit Militärs erfolgt diese seit dem Fall des Eisernen Vorhangs jedoch viel stärker über unzählige Handels- und Investitionsverträge und die Osterweiterung der EU. Angesichts eines Russland, dessen Wirtschaft mit einer Schocktherapie an die Wand gefahren wurde, und eines siegreichen Westens mussten die Länder Osteuropas zu diesen Verträgen nicht gezwungen werden – genauso wenig wie zur Nato-Osterweiterung, die ab 1999 auf leisen Sohlen dem Kapital folgte. Es ist eine Machtpolitik mit liberalem Gesicht.
Als Aggressor wird vielmehr Putin gesehen, der auf die Expansion des Westens nach Osten mit militärischer Gewalt antwortet. Neben der Drohung, den Gashahn zuzudrehen, hat er kaum andere Mittel: Russlands Bruttoinlandsprodukt ist gerade einmal halb so gross wie jenes von Deutschland. «Diese militärische Machtpolitik hat etwas Anachronistisches», bemerkt Goetschel.
Friedensaktivist:innen für Putin
Umso schwieriger ist es, Menschen gegen die westliche Regierung und die Nato zu mobilisieren, als diesen mit Putin ein reaktionärer, rechter Nationalist gegenübersteht. Jo Lang, grüner Altnationalrat und Mitbegründer der Organisation für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), erinnert daran, wie bereits der serbische Nationalismus in den Jugoslawienkriegen ab 1991 die Friedensbewegung in die Krise gestürzt hatte. Die nationalistischen Feldzüge des früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic hätten es schwierig gemacht, sich gegen den Nato-Einsatz im Kosovo zu positionieren, obwohl dieser völkerrechtswidrig gewesen sei. «Der Bad Guy war nicht die Nato, sondern Milosevic.»
Der Aufstieg Putins hat schliesslich dazu geführt, dass sich ein Teil der Friedensbewegung abgespalten hat; diese Aktivist:innen finden sich nun unter Rechtsradikalen wieder. Es sind vor allem jene, die sich bereits früher im Kampf gegen den westlichen Imperialismus hinter das autoritäre Sowjetregime gestellt hatten. Ruedi Tobler, Präsident des Schweizerischen Friedensrats, erinnert sich, wie solche Leute ihm in den siebziger Jahren anboten, von der Kritik am US-gestützten chilenischen Diktator Augusto Pinochet abzusehen, falls er auf die Unterstützung von Sowjetdissidenten verzichte. «Sie konnten sich nicht vorstellen, dass wir sowohl das Sowjetregime als auch Pinochet verurteilten», sagt Tobler lachend. Einige, die in diesem Blockdenken verharren, finden sich heute an der Seite von Putin und rechtsradikalen Kreisen wieder – die wiederum der Friedensbewegung ihre Parolen streitig machen: Seit den «Montagsmahnwachen» in Deutschland und der Schweiz ist eine Querfront entstanden, in der Antiimperialismus mit Verschwörungstheorien und völkischem Denken verschmilzt.
Mit den Coronademonstrationen hat diese Bewegung neuen Zulauf erhalten. Tobler, der mit seinem Friedensrat jedes Jahr den traditionellen Ostermarsch am Bodensee mitorganisiert, erinnert daran, wie im Herbst 2020 rechte Coronamassnahmenkritiker:innen versuchten, sich mit einer eigenen Aktion am Bodensee zu profilieren. «Um sich als die wahren Freunde des Friedens hinzustellen, haben sie sogar wie wir versucht, eine Menschenkette um den Bodensee zu bilden.» Auch wenn dafür am Ende zu wenig Leute gekommen seien.
Doch auch wenn die Friedensbewegung nicht mehr so gross ist wie einst, verschwunden ist sie nicht. Historikerin Kemper sagt, sie sei vor allem weniger sichtbar: «Aus der Bewegung sind viele NGOs entstanden, die die Friedensarbeit fortführen.» Diese Arbeit werde von der Öffentlichkeit nur ab und zu wahrgenommen – wie etwa 2017, als die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen in Genf den Friedensnobelpreis erhielt. Auch die 1982 gegründete GSoA ist aus der Friedensbewegung hervorgegangen.
Doch auch die Bewegung selbst ist nicht tot. Die Ostermärsche haben in den letzten Jahren wieder an Zulauf gewonnen. Zudem entsteht Neues: «Eine der stärksten Bewegungen sind heute die Hafenarbeiter», sagt GSoA-Mitbegründer Lang. In Bilbao oder Genua blockieren diese immer wieder Waffenlieferungen in kriegführende Länder wie Saudi-Arabien (siehe WOZ Nr. 47/2021 ). Möglich also, dass sich im Fall eines russischen Angriffs auf die Ukraine und einer Intervention der Nato auch die Strassen in Europa erneut füllen werden.
Nato 2030 : Blick nach Fernost
Wenn Ende dieser Woche die Münchner Sicherheitskonferenz beginnt, wird dort nicht nur der Ukrainekonflikt Thema sein, sondern auch die Pläne der Nato zu ihrer Weiterentwicklung. Beim Gipfeltreffen in Brüssel vergangenen Juni hatte das transatlantische Militärbündnis diese unter dem Titel «Nato 2030» verabschiedet, kommenden Juni sollen dann auf dem Gipfel in Madrid konkrete Beschlüsse gefasst werden, um die Agenda umzusetzen.
Das Verhältnis zu Russland wird dabei sicher auch eine Rolle spielen. In Brüssel hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg davon gesprochen, dass die Beziehungen zu Moskau auf dem «tiefsten Punkt seit dem Kalten Krieg» angelangt seien – eine Einschätzung, die ein paar Monate später noch viel zutreffender ist. Bemerkenswert an den Plänen der Nato ist aber vor allem, dass keineswegs nur der Kreml im Fokus des Bündnisses steht.
China soll nämlich in den strategischen Erwägungen der Nato mehr Raum denn je einnehmen. In Brüssel sagte der Norweger Stoltenberg, dass China die «Werte» des westlichen Bündnisses nicht teile, gleichzeitig aber wegen seines internationalen Engagements immer näher an dieses heranrücke. Die Regierung in China sprach verärgert von einer «Kalter-Krieg-Mentalität». In der Praxis jedenfalls dürfte sich die Nato zukünftig verstärkt auch in Afrika und Asien engagieren. Stoltenbergs Vorgänger, der Däne Anders Fogh Rasmussen, war deswegen bereits 2013 nach Südkorea gereist – es war der erste Besuch eines Nato-Generalsekretärs in diesem Land.
Am Anfang des Nato-Reformprozesses stand die Krise, in die das Bündnis während der Amtszeit von US-Präsident Donald Trump geriet. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Allianz 2019 gar als «hirntot». Stoltenberg nahm das zum Anlass, Vorschläge für eine Wiederbelebung der Allianz erarbeiten zu lassen. Die daraus resultierende Reformagenda nimmt dabei nicht nur China stärker in den Blick; auch sicherheitspolitische Folgen der Klimakatastrophe oder disruptiver Technologien sollen mehr Aufmerksamkeit erhalten.
Konkrete Vorschläge allerdings, wie sich der Konflikt mit Russland entschärfen liesse, sucht man in den Zukunftsüberlegungen der Nato vergeblich. Stattdessen wird Moskau vorgeworfen, die westliche Vision einer «regelbasierten internationalen Ordnung» zu bedrohen und die Hegemonie über das ehemalige Sowjetterritorium anzustreben – ohne dass dabei die eigene Expansionspolitik problematisiert würde. So aber dreht sich die Eskalationsspirale weiter – und das womöglich bald auch im Fernen Osten.
Daniel Hackbarth