Joshua Cohens «Witz»: Oy wej! Metakwetsch!

Nr. 8 –

Der gefeierte Übersetzer Ulrich Blumenbach legt eine deutsche Nachdichtung von Joshua Cohens Experimentalwälzer «Witz» vor. Ein monströses Buch, das in seiner Masslosigkeit um die Frage nach der Form künstlerischer Erinnerung an den Holocaust kreist.

Der US-Autor Joshua Cohen hat in den letzten Jahren mit Romanen wie «Buch der Zahlen» (2018) oder «Auftrag für Moving Kings» (2019) gezeigt, dass er intelligent und eloquent zu erzählen weiss. Damit ist er auch beim deutschsprachigen Publikum erfolgreich. Doch sein auf Englisch bereits 2010 erschienener 900-Seiten-Roman – er heisst auch im Original «Witz» – treibt die Beredsamkeit in ein Sprachgewucher, das zunächst wohl auch die unerschrockensten Leser:innen überfordert.

Denn erzählt wird hier nicht. Eine Handlung erschliesst sich nur in Umrissen aus ausufernden Beschreibungen und Dialogfetzen. Manchmal herrscht ein Legendenton vor, als würde der Autor aus der ihm bestens vertrauten talmudischen Tradition zitieren, manchmal werden absurde Kochrezepte referiert, und manchmal scheint es, als würde man durch Newssendungen, Comedy- oder Castingshows zappen. Sätze foutieren sich um Grammatik, brechen abrupt ab oder wechseln mittendrin die Perspektive wie ein endloser Twitter-Feed. Wörter haben Doppel- und Mehrfachsinn («apokalispelnde Lippensippen»). Wild werden jiddische und hebräische Begriffe eingemischt. Mit einem Begriff aus «Witz» selbst könnte man von einer «Cohnästhesie» sprechen, also einer ästhetischen Experimentalanordnung, die es nur bei diesem Autor gibt: eine «diasporierende» Assoziationsgewalt – so würde das Cohen vielleicht selbst sagen –, ein zerstreuter, sich selbst zerstreuender Text, der in dieser schwer fassbaren Gestalt das bezeugt, von dem er handelt.

In der Air Force Aleph

Zu den gesicherten Handlungen von «Witz» gehört, dass die Hauptfigur Benjamin Israelien (später nur Ben oder B genannt) am Weihnachtsabend 1999 auf dem Esstisch (auf dem er auch gezeugt wurde) als Sohn von Hanna und Israel Israelien, die schon zwölf Töchter haben, zur Welt kommt. Und zwar nicht nur übergewichtig und vielfrassig, sondern auch mit Bart, Brille und bereits beschnitten, wobei sich seine Vorhaut immer wieder erneuert, nur um dann wieder abzufallen.

Bald nach Bens Geburt sterben weltweit alle Jüdinnen und Juden ausser den männlichen Erstgeborenen an einer nicht näher benannten Krankheit. (Ist es eine Erklärung, wenn es einmal heisst, in «dieser Erbmasse» sei «die Ausrottung einprogrammiert»?) Die Leichen werden im Eismeer vor Manhattan versenkt (in Nordamerika scheint ewiger Winter zu herrschen). Die Übriggebliebenen werden auf Ellis Island versammelt, wo auch Bens Elternhaus massstabsgetreu reproduziert wird. Ein Heer von weiblichen «Marys» soll ihm die Schwestern und die Mutter ersetzen und ihm – «zwinker zwonker» – sexuell zu Diensten sein. Ben wird als Messias angesehen, den man zwar geheimdienstlich überwachen, aber auch hätscheln muss. Die judenlose Gesellschaft konvertiert insgesamt zum Judentum. Man trägt eine Kippa, aus New Orleans wird Beth Mississippi, der US-Senat verwandelt sich in den Sanhedrin, und der Präsident reist in der Air Force Aleph. Sogar der Papst muss sich assimilieren und existiert fortan als «Kryptogoi».

Nachdem auch alle Erstgeborenen ausser Ben sterben, wird dieser auf eine Tournee durch die USA geschickt, bei der er das Publikum segnen und auf dem Höhepunkt in Las Vegas kurz vor Pessach die Tochter des Präsidenten ehelichen soll. Dazu hat Ben aber keine Lust. Er stellt fest: «Jeder will ich sein, bis auf mich.» Eine Rutschpartie übers Dach eines pyramidenförmigen Hotels führt ihn – als Hybrid aus Moses 2.0 und jüdischem Simplicissimus – in die Wüste, wo er pikareske Abenteuer aller Art durchlebt, von einem Alienraumschiff mit einem Tentakelwesen namens «Herr Professor Doktor Froid» gekidnappt wird und nach New York gelangt, wo er beim ödipalen Cunnilingus mit seiner Pseudomutter nicht nur das Bewusstsein, sondern auch seine Zunge verliert (wie in Psalm 136 geschrieben steht: «Vergesse ich dein Jerusalem, so soll meine Zunge verdorren»).

Schliesslich reist Ben per Schiff über den Atlantik (wo ihm ein Jiddisch sprechender Fisch drei Wünsche erfüllen möchte) nach «Polenland». Hier hat diese Geschichte ihr Zentrum. Denn wer dem über Hunderte von Seiten füllenden Sprachrausch immer mal wieder zu folgen vermag, merkt irgendwann, dass der Grund dieses «Exodus redivivus» im Trauma des Völkermords an den europäischen Jüdinnen und Juden besteht. Alles geht von der «Arche Shoah» aus.

Warumwald und Nichthausen

Dieses Buch ist in seiner gewollten Monstrosität stellenweise nervtötend. So kann eine Figur nicht einfach Wasser lassen, sondern «sein dunstendes Strunzen schäumt wilde Tröpfchen auf Brille und Boden». Doch die Zumutung solcher (seitenlang ausgeführten und kaum lesbaren) Grotesken sind Programm. In Cohens Parallelwelt ist die Konversion zum judenlosen Judentum Zwang. Wer sich weigert, wird in Lager namens «Woimmerwitz, Warumwald, Nichthausen» deportiert und in grauenhafter Weise ermordet.

Diese Prozedur wird als touristische Gruppenreise beschrieben, was die realen Vernichtungsabläufe der Nazis spiegelt. Diese waren bekanntlich teilweise als «Umsiedlung» getarnt, oder die Opfer mussten Fahrkarten für den Transport an ihre Ermordungsstätten kaufen. Im Vergleich zu Kitsch à la «Der Junge im gestreiften Pyjama» nimmt Cohen den «Zivilisationsbruch» ernst: Die Form- und die Masslosigkeit seines Textes kreisen um eine anhaltende Fassungslosigkeit, für die es eine «angemessene» künstlerische Form gar nicht geben kann.

Teils ohne Punkt und Komma

Hatte George Perec mit «La Disparition» («Anton Voyls Fortgang») einen Roman ohne den Buchstaben E vorgelegt, um die Verstörung des Holocaust zu bezeugen, so kommen in «Witz» die Wörter «Jude» oder «jüdisch» kein einziges Mal vor, sondern es wird von den «Eingegliederten» gesprochen. Im Original benutzt Cohen das Wort «affiliated», was über das lateinische «filius» auch auf das Wort «Sohn» verweist. Die slawische Endung «-witz» wiederum bedeutet «Sohn von». Ben (= «Sohn») wird als «Sohn der Söhne» bezeichnet, der letzte Jude, dessen Übrigbleiben die Reste der ausgelöschten jüdischen Welt Europas und die aussterbenden Zeugen des Völkermords verbildlicht. Der Autor hat selbst zwischen 2001 und 2006 für die jüdische Zeitschrift «Forward» Holocaustüberlebende interviewt. Auf den letzten fünfzig Seiten von «Witz» mit dem Titel «Pointen» folgen wir dem Bewusstseinsstrom eines Überlebenden – teilweise ohne Punkt und Komma am Rand des Verstehens.

Cohen wandert in «Witz» auf den Spuren der (post-)modernen amerikanisch-jüdischen Literatur. Henry Roths «Nenn es Schlaf», die Romane von Cynthia Ozick und Philip Roth oder die Gedichte Allen Ginsbergs klingen an. Der Echoraum von Cohens «Metakwetsch» sind das US-amerikanische Judentum und das vernichtete jiddische Universum. Der in Basel lebende Übersetzer Ulrich Blumenbach hat mit der deutschen Version eine unmögliche Aufgabe erfüllt, mit bewundernswerter Ausdauer und einem ganz eigenen Sprach-Witz. Den Slogan von Bens Tournee durch die USA übersetzt er beispielsweise mit «glauBEN!» (im Original «BEN:BELIEVE»). Doch trotz Blumenbachs Meisterschaft wirkt der Roman manchmal bemüht; zumal man irgendwann begriffen hat, dass es den Leser:innen einfach nicht leicht gemacht werden soll.

Dieses explizit jüdische Buch kann vielleicht aktuell nur in Deutschland eine solche Aufmerksamkeit geniessen; die erste Auflage der deutschen Übersetzung war in Kürze ausverkauft. Wem die deutsche Landschaft ehemaliger Synagogen und «jüdischer» Kulturzentren auch nur ein wenig vertraut ist, der wird Cohens Satire eines judenlosen Judentums auch auf diese kulturelle Konstellation beziehen. «Witz» auf Deutsch gleicht seinem Helden Ben, der als letzter Jude in der Welt nach Auschwitz ein letztes Fünkchen Erlösung bezeugen soll, aber gerade diese Erlösung verweigert.

Joshua Cohen: Witz. Roman. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Schöffling & Co. Frankfurt am Main 2022. 912 Seiten. 53 Franken