Kino: Das Böse hinter der Fassade

Nr. 8 –

Relativ unbekannt, aber ungeheuer einflussreich: Im Kino des Georges Franju (1912–1987) ist die Realität stets angsteinflössender als das Fantastische. Sein Werk ist jetzt im Zürcher Filmpodium zu entdecken.

Die Obsessionen des Georges Franju: Nirgends zeigen sie sich vergnüglicher und mysteriöser als im Film «Judex» (1963). Still: Filmpodium

Das Kino von Georges Franju beginnt nicht 1935, als er mit Henri Langlois seinen ersten Kurzfilm «Le Métro» dreht, und auch nicht, als er die Cinémathèque française mitbegründet. Es beginnt mit dem Anfang des Kinos selbst, als die Brüder Lumière einem schockierten Publikum die Ankunft eines Zuges zeigen und als kurz darauf Georges Méliès das Kino als Zaubermaschine benutzt, um losgelöste Köpfe aufzublasen und Astronauten per gigantischer Kanone auf den Mond zu schiessen. Von da an driften auch das Kino des Realen und das Kino des Fantastischen auseinander.

Ausser eben bei Georges Franju. Wie in seinem halb dokumentarischen, halb narrativen Kurzfilm «La Première Nuit» (1958), in dem sich für einen kurzen Moment ein kleiner Junge und ein Mädchen treffen, bevor ihre Metrozüge unterschiedlichen Gleisen folgen. Genau in diesem poetischen Blickkontakt, der bezeichnenderweise einem Traum entspringt, ist Franjus Vision des Kinos zu verorten.

Im ersten Teil seiner Karriere dreht er ausschliesslich dokumentarische Kurzfilme von zwanzig, dreissig Minuten – in der Regel Auftragswerke, aber innerhalb des vorgegebenen Themas in völliger Freiheit. Für Franju, über den gesagt wird, dass er «keine Ideen, sondern Visionen» gehabt habe, war es «la situation idéale». Zwei dieser Arbeiten ragen ganz besonders heraus: «Le Sang des bêtes» (1948) und «Hôtel des Invalides» (1951). In Letzterem gelingt es Franju mittels kreativer Montage, eindringlicher Tongestaltung und der lebhaften Inszenierung starrer Objekte, eine touristische Führung durch das Militärmuseum zu einem beissenden Pamphlet gegen Militarismus und den Krieg umzugestalten. Unerträglich lange Einstellungen auf einen mit Orden behangenen Veteranen mit zerstörtem Gesicht oder eine Sequenz, in der eine Reiterarmee einzig durch die Bewegung der Kamera zu einem gespenstischen Marsch angetrieben wird, verweisen auf Franjus spätere Spielfilme, in denen das Unheimliche immer schon Teil der Wirklichkeit ist und durch einen präzisen Blick hinter die Fassaden freigelegt wird.

Barbarei des Alltags

«Le Sang des bêtes» ist vordergründig eine Dokumentation über zwei Pariser Schlachthöfe. Was den Film zu einem Meisterwerk macht, ist nicht nur die unverstellte Sicht auf die normalerweise verborgene alltägliche Barbarei der Tierschlachtung, sondern auch die Kontrastierung dieser Bilder mit dem Pariser Alltag, der bloss einige Meter ausserhalb der Mauern der blutgetränkten Schlachthöfe seinen gewohnten Gang geht. Eine schockierend gleichmütige Erzählerstimme betont dabei die Qualitäten des gezeigten Handwerks, während sich die Schlächter pfeifend von der allgegenwärtigen Grausamkeit ablenken. Wie in einem düsteren Ritual werden Schafs- und Kälberköpfe aneinandergereiht, und unauslöschlich brennen sich die letzten Blicke der eben noch lebenden Pferde und Kühe ins Gedächtnis.

So schwierig zu klassifizieren seine späteren Langspielfilme sind, für Franju selbst unterscheiden sie sich nicht grundsätzlich von seinen Dokumentationen: «Die Art des Sehens ist dieselbe.» Bestes Beispiel hierfür ist sein erster Spielfilm «La Tête contre les murs» (1958). Mit den Mitteln des Film noir schliesst er hier beinahe nahtlos an seine kritischen Institutionenporträts an und liefert eine subversive Kritik am Patriarchat sowie an der institutionellen Psychiatrie von damals.

Die Taube in der Hand

Franjus Stärke lag mehr in der Kreation von Bildern als auf der Ebene der Narration. Davon zeugen Werke wie «Pleins feux sur l’assassin» (1961), ein erzählerisch eher durchschnittliches Murder-Mystery, das in seiner Vorwegnahme des gegenwärtigen Überwachungsdispositivs teils moderner wirkt als die Werke der gleichzeitig stattfindenden Nouvelle vague. Was wiederum seinen bekanntesten Film, «Les Yeux sans visage» (1960), in seiner Wirkung so destabilisierend macht, ist nicht so sehr der Plot um einen Arzt, der unschuldige Frauen entführen lässt, um das Gesicht seiner entstellten Tochter wiederherzustellen, sondern das zentrale Bild der jungen Frau mit der weissen, identitätsraubenden Maske wie auch der beinahe klinisch sezierende Blick, mit dem Franju das Geschehen inszeniert. Wie viele seiner Spielfilme oszilliert «Les Yeux sans visage» zwischen den Genres Horror, Wissenschaftsthriller, Film noir und Familiendrama, ist inspiriert von der frühen Filmgeschichte und gleichzeitig atemberaubend modern.

Keiner von Franjus Filmen jedoch vereint dessen Obsessionen auf so vergnügliche und mysteriöse Weise wie «Judex» (1963). Im Remake des Serienklassikers von 1916 spielt er mit doppelten und dreifachen Identitäten, absurden Entführungskomplotten, protofeministischen Frauenfiguren und einzigartigen Bildschöpfungen wie aus einem düsteren, aber unterhaltsamen Traum. Eine Nonne schält sich aus ihrem Kostüm, unter dem ein enger Catsuit zum Vorschein kommt. Drei mysteriöse Gestalten erklettern geräuschlos die Mauer eines alten Gebäudes. Und ein Mann erscheint mit Vogelkopf auf einer Kostümparty, in seiner Hand eine tote Taube, die plötzlich davonfliegt.

Todgeweihte und befreite Tiere ziehen sich durch Franjus gesamtes Schaffen. Sie erzählen von einer Welt, die grausam vertraut und gleichzeitig ein ewiges Geheimnis bleibt.

Franjus Gesamtwerk ist bis zum 31. März 2022 im Filmpodium Zürich zu sehen. Gezeigt werden zudem Filme wie die «Fantômas»-Reihe von Louis Feuillade, eine der zentralen Inspirationen für Franju, wie auch Werke von Pedro Almodóvar oder David Lynch, die ohne Franju kaum denkbar wären.