«Phoenix»: Das wahre Gesicht im falschen
Deutschland im Jahr null: Christian Petzolds neuer Film «Phoenix» ist ein bestechender Versuch über die Unmöglichkeit der Liebe nach dem Holocaust. Dabei wird eine Frau zur Doppelgängerin ihrer selbst.
Sie haben alles versucht. Sie haben den Liebenden die Kleider abgenommen. Sie haben die Zelle mit Teppichen ausgelegt, damit es die beiden gemütlicher haben. Schallplatten wurden abgespielt, die Beleuchtung wurde angepasst. Sie haben das Paar zum Flüstern angehalten in der Hoffnung, der vertrauliche Ton würde eine Atmosphäre der Intimität erzeugen. Sie haben die Leiber der beiden mit Alkohol bestrichen und ihnen Champagner zu trinken gegeben. Aber es half alles nichts, sie blieben ohne Lust.
Alexander Kluges kurze Erzählung «Ein Liebesversuch» (1962) ist ein lakonischer, fast klinischer Rapport über ein unmenschliches Experiment in einem deutschen Vernichtungslager: Um zu testen, ob Röntgenstrahlen zur Massensterilisation taugen, wollen die Nazis zwei Gefangene mit allen Mitteln zum Beischlaf bewegen. Doch das Paar bleibt völlig apathisch, der Versuch wird abgebrochen. Das Begehren lässt sich unter der Erfahrung des Lagers nicht einfach wiederbeleben, schon gar nicht unter Anweisung wie in einem Labor. Aber gerade dadurch, sagt nun der Filmemacher Christian Petzold («Barbara»), feiere hier die Liebe auf paradoxe Weise einen Triumph: weil die Nazis daran verzweifeln, dass sie sich eben nicht erwecken lässt.
Phantom mit riesigen Augen
In seinem bestechenden neuen Film «Phoenix» greift Petzold diesen Gedanken auf und spinnt ihn in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg weiter. Man versteht sofort, warum er sagt, dass Kluges Erzählung der entscheidende Text für diesen Film gewesen sei. Auch «Phoenix» zeigt uns ein Paar, das nicht mehr über den Graben des Grauens zurückspringen kann, den der Holocaust aufgerissen hat. Aber hier ist es die versehrte Jüdin Nelly, die das einfach nicht wahrhaben will und die trotzig versucht, das Unwiederbringliche zu retten: die Liebe dort wieder aufzunehmen, wo sie war, bevor ihr Mann Johnny sie vielleicht an die Nazis verraten hat.
Zu Beginn, als die Totgeglaubte aus dem Lager zurückkehrt, ist diese Nelly nur ein Phantom ihrer selbst: Von ihrem entstellten Gesicht sehen wir nur die riesigen Augen, der Rest bleibt verborgen unter dicken Bandagen. Das alte Gesicht lasse sich schwerlich wiederherstellen, hört Nelly dann in der plastischen Chirurgie, aber sie dürfe sich ein neues aussuchen, nach Wunsch auch ein berühmtes, sagt der Arzt. Im Angebot hat er zwei Lieblingsfilmstars der Nazis: Wie wärs mit Zarah Leander? Oder lieber Kristina Söderbaum? Nelly jedoch will nicht wie das Double einer Schauspielerin aussehen, sie hätte lieber ihr eigenes Gesicht zurück, auch wenn es nur eine traurige Kopie ist. Und irgendwann sind die Bandagen ab, und da sieht Nelly dann doch wie ein Filmstar aus: Sie hat das Gesicht von Nina Hoss.
Ein fahler Geist in einer zerschossenen Stadt, so macht sie sich jetzt auf die Suche nach ihrem Johnny (Ronald Zehrfeld), einem Musiker. Sie findet ihn in einem Nachtclub namens Phoenix, aber nicht auf der Bühne, sondern als Küchenhilfe. Bloss, Johnny erkennt sie nicht wieder. Die Frau erinnert ihn zwar an Nelly, aber an eine wundersame Wiederkehr kann oder will er nicht glauben. Das Wiedersehen bleibt also einseitig. Doch Nellys Schock darüber wird bald abgelöst durch ihr stummes Entsetzen über das Kalkül ihres Witwers. Angesichts dieser Fremden, die zufällig seiner toten Frau ähnlich sieht, fasst Johnny nämlich einen kalten Plan: Er will sie in Nelly verwandeln, um so an das Erbe ihrer Familie zu kommen.
Expressionistische Schattenwürfe
Die ganze Konstruktion ist eine Kopfgeburt, aber als solche unendlich faszinierend. Wer im Kino jeden Film prinzipiell am Raster irgendwelcher psychologischer Plausibilitäten ausrichten will, wird in «Phoenix» bereits die Tatsache, dass Johnny seine eigene Frau nicht wiedererkennt, für grotesk halten, neues Gesicht hin oder her. Aber das Nichterkennen ist hier mehr als eine etwas steile dramaturgische Behauptung: Es ist ein mythologisches Bild für die historischen Erschütterungen, für den fundamentalen Bruch, der die Welt im Innersten zerrissen hat.
«Phoenix» ist also weniger ein Drama im historischen Kleid als eine Versuchsanordnung. Und der Versuch, der hier in Deutschland im Jahre null durchgespielt wird, dreht sich um Identität und Maskerade, um das wahre Gesicht im falschen. Kino ist bei Christian Petzold nie ein Werkzeug zur behelfsmässigen Rekonstruktion von Geschichte, sondern ein Imaginations- und Denkraum. Aber noch selten war sein zerebrales Kino so gut getarnt wie hier. Wären da nicht Nina Hoss und Ronald Zehrfeld, die bereits in «Barbara» (2012), seinem letzten Film, die Liebe unter erschwerten politischen Bedingungen probten, man würde diesen Petzold auf den ersten Blick kaum als solchen erkennen.
Nur schon diese expressionistischen Schattenwürfe, wenn Nina Hoss nachts in Berlin durch die sauber drapierten Trümmerkulissen huscht: Was ist denn hier los, hat Christian Petzold den Film noir entdeckt? Will er die Gespenster der Berliner Schule, mit der er noch immer identifiziert wird, mit einer neuen Lust an der Kolportage in geschmackvoller Ausstattung austreiben?
Nein, wenn hier etwas ausgetrieben wird, dann ist es die sentimentale Historizität der deutschen Bewältigungsmaschinerie in Film und Fernsehen mit ihren aufwendigen Mehrteilern wie «Unsere Mütter, unsere Väter». Gegen diese «Selbstmitleidsorgien», wie er das in einem Interview nannte, setzt Petzold sein ungeniert melodramatisches Arrangement, die gesteigerte Wahrheit des Künstlichen. Und dieser Johnny in «Phoenix» verkörpert ja geradezu die moralische Selbstgerechtigkeit der deutschen Gedenkkultur: so fixiert auf eine «glaubwürdige» Inszenierung, dass er gar nicht mehr sieht, was für eine Frau das ist, die er da zur authentischen Überlebenden stilisieren will.
Das Drehbuch, Petzolds letzte Zusammenarbeit mit seinem jüngst verstorbenen Lehrer Harun Farocki, beruht auf einem Roman des französischen Schriftstellers Hubert Monteilhet. «Der Asche entstiegen» heisst dieser Krimi auf Deutsch, er wurde auch schon verfilmt, mit Maximilian Schell. Aber es gibt noch andere Filme, die unübersehbar durch diesen «Phoenix» geistern: Da ist der subtile Horror von Georges Franjus «Les Yeux sans Visage» (1960), der in der Frau ohne Gesicht anklingt, und natürlich ist da vor allem auch Alfred Hitchcocks «Vertigo» (1958).
Wie bei Hitchcock haben wir hier einen Mann, der alles daran setzt, eine Frau zum Ebenbild seiner verlorenen Liebe zu dressieren. «Es ist, als würden wir uns wieder neu kennenlernen», sagt Nelly einmal zu ihrer Vertrauten (Nina Kunzendorf). Denn statt unter Protest ihre Identität zu beweisen, akzeptiert sie die fremde Zuschreibung: Sie lässt sich auf das Spiel ein, um sich gemäss den Anweisungen ihres Witwers in die perfekte Doppelgängerin ihrer selbst zu verwandeln.
«Mich gibts gar nicht mehr»
Je genauer die beiden an der Rekonstruktion der Nelly von einst arbeiten, umso mehr verengt sich der Film zum Kammerspiel – und nähert sich so auch dem Setting von Alexander Kluges Erzählung an. Bei Kluge brechen die Nazis ihr Experiment ergebnislos ab, die Versuchspersonen werden erschossen. Der Liebesversuch in «Phoenix» dagegen handelt letztlich von der Selbstermächtigung einer Frau, die ihre Identität stets von anderen festgeschrieben sah: von den Nazis als Jüdin, von Johnny als ihr eigenes Double.
«Mich gibts gar nicht mehr», bemerkt Nelly einmal, da trägt sie noch ihre Bandagen, und die Augen der Nina Hoss wirken hier so monströs wie noch nie. Mit Johnny tut sie dann so, als wäre sie eine andere, weil sie dabei wieder sich selbst spielen darf. Aber je näher sie den Vorstellungen ihres Manns kommt, umso mehr wird klar: Ihre alte Identität ist unrettbar verloren, wie ihr Gesicht, wie ihre Liebe. Grandios, wie Petzold das ganz zum Schluss auflöst, ohne dass dadurch irgendetwas gelöst wäre. Nelly reisst die Szene an sich – und lässt uns einfach stehen.
«Phoenix». Deutschland 2014. Regie: Christian Petzold. Ab Donnerstag, 25. September 2014, als Vorpremiere im Lunchkino in Bern und Zürich, ab 2. Oktober 2014 in den Kinos.
Phoenix. Regie: Christian Petzold. Deutschland 2014