Kommunalpolitik: Ach, Köniz

Nr. 8 –

Die grösste Agglomerationsgemeinde der Schweiz schreibt seit Jahren Defizite. Einigt sich die Bevölkerung nicht bald auf eine Steuererhöhung, übernimmt der Kanton.

43 000 Ein­woh­ner:in­nen – aber eine Stadt will man nicht sein: Das Gemeindehaus von Köniz.

Nein, sagt der freundliche Mann im Reisebüro beim Bahnhof Köniz, nichts zu Köniz. Wo die Namen der hiesigen Ortsteile doch so anmutig sind: Liebefeld, Liebewil, Herzwil. Wo aber ist das Herz, das all das zusammenhält? 22 Ortschaften, 115 Wanderwegkilometer, 51 Quadratkilometer, dreimal so gross wie die Stadt Genf: Willkommen in der grössten Agglomerationsgemeinde der Schweiz.

Köniz, südwestlich von Bern, hat 43 000 Einwohner:innen. Doch das Gebäude, vor dem wir stehen, heisst nicht Stadthaus. Sondern Gemeindehaus. Etwas weiter oben erinnert das Schloss an die Zeit vor tausend Jahren, als hier noch das Augustiner-Chorherrenstift und die Deutschordenskommende Köniz das Sagen hatten. Seit 1996, als der Kanton der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde das Ritterhaus und das Pfarrhaus verkaufte und die Gemeinde alle weiteren Liegenschaften der Schlossanlage erwarb, ist daraus ein Kultur- und Begegnungszentrum entstanden, inklusive Schulmuseum, Musikschule, Galerie und Beiz. Das Kornhaus allerdings wirkt ziemlich verlottert. «Sinnbild für die kommunale Finanzpolitik», sagt ein Angestellter, der im Schlosshof gerade Pause macht. Für eine Sanierung habe es in Köniz, diesem «Konglomerat aus Satelliten», nie eine Mehrheit gegeben.

Der Schuldenberg wächst

Vor dem Oberstufenzentrum schlottern ein paar Leute. Die Parlamentssitzung in der Aula wird live übertragen. Zehn Jahre schon ächzt die Grossgemeinde unter finanziellen Problemen, nachdem 2012 eine Senkung des Steuerfusses von 154 auf 149 Prozent in Kraft trat. Für 2021 rechnet man mit einem Defizit von 8,5 Millionen Franken. Im November lehnten die Könizer:innen eine Erhöhung des Steuerfusses auf 160 Prozent ab. Der Kantonsschnitt liegt bei 171 Prozent. Jetzt ist die Kommune in einem budgetlosen Zustand und darf nur noch Ausgaben tätigen, die für das Funktionieren der Gemeinde unumgänglich sind. Und das, nachdem Ende 2021 mit der Swisscom auch noch die grösste Steuerzahlerin den Standort Köniz verlassen hat.

Der Gemeinderat hat dem Parlament nun zwei neue Varianten vorgelegt. Die erste wäre praktisch identisch mit der Vorlage vom November; die zweite würde den Steuerfuss nur auf 158 Prozent anheben – dafür aber etwa 1,4 Millionen Franken bei sogenannt freiwilligen Leistungen für Bibliotheken, kulturelle Betriebe, die Musikschule sowie Angebote für Kinder und Jugendliche einsparen. Nach heftigen Protesten und einem offenen Brief der davon Betroffenen kommt das aber auch für die bürgerliche Mehrheit nicht infrage. Geht es nach ihrem Rückweisungsantrag, mit dem sie sich gegen die Linken durchsetzten, soll vielmehr in der Verwaltung sowie beim Strassenunterhalt, bei Fuss- und Velowegen oder beim Schwimmbad gespart werden – bei einem Steuerfuss von maximal 157 Prozent, inklusive einer Schuldenbremse.

Grossgemeinde Köniz Karte: WOZ

Und wieder muss der Gemeinderat somit über die Bücher. Ach, Köniz. Dabei machst du doch vieles so gut. Zum Beispiel im Umgang mit der historischen Bausubstanz und der Siedlungsplanung, für die es 2012 den Wakkerpreis gab. Im Zonenplan von 1970 ging man noch von 100 000 Einwohner:innen aus. Ab Mitte der siebziger Jahre jedoch wurden landwirtschaftlich genutzte Flächen ausgezont. Das prägt Köniz bis heute: weite Felder, schmucke Dörfer, intakte Weiler – und dafür, entlang der S-Bahn, umso kompaktere Siedlungen mit Neubauten, die Richtung Norden in urbane Zonen münden.

Natürlich gibt es da lebensweltliche Unterschiede: Hier die stadtorientierte Jungunternehmerin im Norden, die das Gefühl hat, zu viel für die Landwirtschaft zu zahlen; dort der Bauer im Süden, der nicht versteht, warum er für neue Schulhäuser und Kitas im Norden zahlen soll. Auch die Politik spiegelt diese Mischung. In den achtziger und neunziger Jahren sass noch die «Rechte» – eine Sammelpartei aus Nationaler Aktion, Schweizer Demokraten, Auto-Partei und Partei für gerechte Steuerpolitik – mit bis zu fünf Sitzen im vierzigköpfigen Parlament. Derweil haben die Grünen seit 1977 sukzessiv zugelegt. Seit 2009 kommen die Grünliberalen hinzu, wohingegen SVP und FDP sowie etwas weniger auch die SP verloren haben. Das zunehmend fortschrittlicher werdende Abstimmungsverhalten zeigte sich unlängst bei der kantonalen Abstimmung über eine höhere Motorfahrzeugsteuer (60 Prozent Ja) sowie der eidgenössischen Abstimmung zur Medienförderung (50,8 Prozent Ja). Jetzt aber, wo es ums Eingemachte geht?

Bern bei Köniz

Gibs zu, Köniz: Eigentlich bist du ein Kanton. Fährt man vom Europaplatz in Bern mit der S-Bahn Richtung Süden, ist man schon in wenigen Minuten in einer Landschaft, die an Gotthelf denken lässt. «Haben Sie gewusst, dass Köniz älter als Bern ist und es einmal Bern bei Köniz hiess?», belehrt mich ein pensionierter Lehrer im «Rössli» beim Bahnhof Gasel. Im Dorf selbst ist es still an diesem regnerischen Tag, doch Plakate lassen erahnen, wie rege das Vereinsleben noch immer sein mag.

Was aber hat ein Dorf wie Gasel mit dem urbanen Liebefeld zu tun? Was hält die Gemeinde zusammen? Und worin besteht ihr Selbstverständnis? Seit 2018 präsidiert Annemarie Berlinger-Staub (SP) den Gemeinderat, der zudem aus je einem GLP-, SVP-, FDP- und Grünen-Vertreter besteht. «2004 entschieden die Könizer:innen: Köniz ist keine Stadt. Heisst: Man fühlt sich nicht als Stadt – hat aber die finanziellen Belastungen einer Stadt.» Sie selbst sei von Schliern, «doch im Amt ist mir Köniz als Ganzes natürlich viel wichtiger geworden.» Die Identität jedoch finde im Kleinen statt. «Mein Eindruck ist, dass es allenfalls eher einen Graben zwischen einzelnen Dörfern als zwischen Stadt und Land gibt.» Auch politisch sei vieles anders, als man vielleicht vermute: In mancher Frage sei die städtisch geprägte FDP konservativer als die ländlich geprägte SVP. Der Auftrag, den die Bürgerlichen mit ihrem Rückweisungsantrag an den Gemeinderat stellten, sei teilweise gar nicht umsetzbar: «Für eine Schuldenbremse bräuchte es zuerst eine gesetzliche Grundlage.»

Wäre da nicht doch eine Fusion mit Bern eine Option? Berlinger-Staub wehrt ab: «Ich würde das nie wagen. Ich glaube, man würde einiges an Synergien verlieren, die innerhalb der Gemeinde spielen. Wir haben eine gute Grösse für eine Gemeinde. Das zeigt sich ja auch in unserem Raumentwicklungskonzept, das Stadt und Land in einem Gleichgewicht hält.»

Chilbi für alle?

Doch gibt es auch Stimmen, die für eine Fusion wären. Eine davon gehört Rafael Egloff, der im Kulturzentrum Heitere Fahne in Wabern arbeitet. In diesem Ortsteil, der längst mit Bern zusammengewachsen ist, bespielt das Kollektiv seit acht Jahren bei der Talstation der Gurtenbahn die einstige Gurtenbrauerei. Dass sich das Gebäude auf Könizer Boden befindet, ist vielen Besucher:innen wohl gar nicht bewusst. Und doch zahlt die Stadt Bern mehr für den Betrieb: 50 000 jährlich, derweil Köniz 35 000 Franken beisteuert.

Die Heitere Fahne, in der sich auch Menschen mit körperlichen, geistigen oder psychischen Herausforderungen entfalten können, würde eine Halbierung der Beiträge empfindlich treffen. Es wäre aber auch ein Verlust für ganz Köniz. Denn der Begriff der Inklusion ist bei der Heiteren Fahne weit gefasst, auch was die Überwindung des Stadt-Land-Grabens betrifft: «Wir hatten die Idee für eine Heitere Chilbi im Könizer Zentrum, doch dazu wollte die Gemeinde nicht Hand bieten.»

Am Stammtisch im «Rustica» im Liebefeld ist eine angeheiterte Runde versammelt. Über Köniz reden will aber nur einer. «Das machen wir jetzt aber draussen», sagt der elegante Herr, der in einem Immobilienunternehmen arbeitet. Er sei nicht eigentlich politisch, aber ein «echter Urkönizer», sagt er und zündet sich eine Zigarette an. «Wir haben viel gebaut hier und dabei immer sehr gut mit der Gemeinde zusammengearbeitet.» Sein Rat zur Budgetdebatte? «Weniger Geld für Kreisel, Bordsteine und Velostreifen – und mehr für die Bewohner:innen. Ich bin für eine Steuererhöhung, wenn sie gezielt eingesetzt wird. Schauen Sie nur: der Liebefeld-Park. Ist das nicht wunderbar?»

Sehnsucht nach einer Piazza

Ganz in der Nähe wohnt auch Vanda Descombes. Was ihr an Köniz gefalle, sei gerade die Gleichzeitigkeit von Stadt und Land mit den unterschiedlichen Haltungen, Vereinen und Ortsgruppen, sagt die Ko-Fraktionspräsidentin der SP Köniz. «Als Person mit italienischen Wurzeln fehlt mir aber ein eigentliches Zentrum, eine Piazza. Der Durchgangsverkehr im Zentrum von Köniz ist dafür sicher ein Hindernis.»

Descombes zog in den achtziger Jahren hierher und hat die rasante Bevölkerungsentwicklung hautnah miterlebt. Und damit auch, wie seit der Steuersenkung der Schuldenberg wuchs: «Als Vorortsgemeinde ist Köniz für Familien attraktiv. Das zieht unter anderem den Bau von Schulhäusern nach sich und kostet.» Eine Schuldenbremse jedoch, wie sie die Bürgerlichen fordern, sei immer auch mit der Möglichkeit eines Leistungsabbaus verbunden. «SP und Grüne wären mit einer Erhöhung des Steuerfusses auf 158 Prozent kompromissbereit gewesen. Für eine nachhaltige Entwicklung aber wären 160 Prozent das absolute Minimum.»

Dominic Amacher, FDP-Fraktionspräsident, der im Spiegel wohnt, sieht das anders: «Eigentlich müsste schon ein Steuerfuss von 149 Prozent reichen, aber dafür gibt es im Parlament keine Mehrheiten. Die FDP sieht deshalb im Rückweisungsantrag den dringend notwendigen Kompromiss. Wir sehen zudem Einsparungspotenzial in der Verwaltung.» Auch die Kommunikation müsse besser werden. «Man muss den urbanen Leuten klarmachen, dass Köniz nur zusammen mit den ländlichen Teilen so attraktiv ist – und umgekehrt. Und den Leuten auf dem Land etwas dafür zurückgeben, dass sie die Investitionen in den urbanen Teilen mittragen.»

Was nun, Köniz? Vielleicht kann sich das Parlament im April ja doch noch einigen. Dann käme es im Juni an der Urne zum Showdown. Gut möglich, dass die Könizer:innen dann doch noch Ja sagen zu einer Steuererhöhung. Sonst diktiert bald der Kanton.