Literatur: Prozac für das Leben nach dem Tod

Nr. 8 –

Experimente am scheintoten Subjekt: Die Erzählungen des US-Autors Ben Marcus kommen gnadenlos misanthropisch daher. Dahinter aber lauert ein Humorist.

Glückspillen? Das könnte uns so passen. Drogenkristalle von ganz nah. Foto: Keystone

Ach, der Mensch. Letztlich nur ein wandelnder Beutel Brei, eine Pfütze. Oder ein Haufen Haut, der sich von einem Zimmer ins nächste schleppt, in der Hoffnung, dass niemand erkennt, was er wirklich ist. Wahlweise auch eine Fleischmaschine, die die Luft verpestet mit dem Wind, der ihr aus dem Gesicht weht. Oder ein Bedürfnisapparat, eingefasst in ein Experiment namens Familie. Und wenn zwei zusammenkommen, können sie sogar Kinder anfertigen, auch wenn sie die Techniken, die dafür erforderlich sind, nicht mehr so recht beherrschen. Angesichts von all dem besonders beunruhigend: dass es unter diesen Menschen trotzdem noch solche gibt, die manchmal vor Glück schreien möchten.

Ja, es gibt so etwas wie Glück in den Erzählungen von Ben Marcus, denen alle diese Umschreibungen entnommen sind. Aber man muss es schon suchen gehen, tief danach graben, darf beim Lesen nie blinzeln. Denn manchmal ist es nur ein einzelner Satz, der im existenziellen Nebel oder im pharmazeutischen Staub dieser Storys unverhofft aufleuchtet wie ein Gestirn der Möglichkeiten: «Wenn sie ihn auszog, hatte sie Sorge, sie könnte statt des üblichen grauen Fleischs, das einen Mann ausmachte, zwischen seinen Beinen ein kleines goldenes Tier finden, eine Fee oder einfach nur Moos.» Aber auch hier: Wenn sie Sorge hat, soll das heissen, dass ihr dieses graue Fleisch irgendwie doch lieber ist, als wenn sie dort mal ein goldenes Tier oder eine Fee fände?

Vor zehn Jahren, in seinem letzten Roman, schickte Marcus eine Seuche in die Welt. «Flammenalphabet» hiess das Buch, angesiedelt irgendwo zwischen experimentellem Katastrophenroman und kabbalistischem Schauermärchen. Unfassbares geht darin vor sich: Sprache verbreitet sich buchstäblich wie ein Gift. Aber nur die Sprache der Kinder ist toxisch geworden. Die Erwachsenen werden krank, wenn ihre Liebsten den Mund aufmachen, die Kinder selber bleiben unversehrt.

Wenn das Haus gefriert

Verglichen damit, darf sich der Vater, der im neuen Erzählband des 54-Jährigen den Anfang macht, fast schon glücklich schätzen. Wobei so ein langsamer Gifttod womöglich doch angenehmer wäre als das, was der Bub Jonah hier mit seinen Eltern macht: totaler, absoluter Liebesentzug. Und er tut das nicht einmal aus pubertärem Trotz, was ja so weit normal wäre. Sondern ganz einfach und viel grundlegender, also auch verstörender: Jonah will von seinen Eltern nicht geliebt und schon gar nicht geherzt werden, und er empfindet auch selber keine Liebe oder überhaupt etwas für sie.

«Kalter kleiner Vogel» heisst diese Erzählung über den Jungen, der seinen Vater zur Weissglut treibt, so kalt und distanziert, als könnte er «das ganze Haus einfrieren lassen». Das eigene Kind, das einem bodenlos fremd wird: Beiläufig und ohne falschen Spuk hat sich hier das Unheimliche im Familienalltag eingenistet. Aber damit ist man noch längst nicht auf die Wahrnehmungsverschiebungen gefasst, mit denen die weiteren Erzählungen aufwarten. Dabei hilft es, wenn man Ben Marcus stets auch als abgebrühten Humoristen liest, anders wären diese «Nachrichten aus dem Nebel» manchmal schwer zu ertragen.

Oft findet man sich hier in seltsam dystopischen Firmen, wo fragwürdige Produkte und Techniken getestet werden, ohne Rücksicht auf Verluste. Und immer wieder werden irgendwelche Pillen, Lotionen und Pülverchen verabreicht. Deren verunsichernde Wirkung entzieht einem auch beim Lesen immer mal wieder den Boden, wie in einem Wachtraum, bei dem man nicht weiss, ob das jetzt ein guter oder ein schlechter Trip ist. Glückspillen? Das könnte uns so passen, denn schon kommt einer dieser Marcus-Sätze um die Ecke, so abgrundtief komisch, dass jeder bessere Comedian dafür töten würde: «Irgendjemand nannte es ein Antidepressivum für das Leben nach dem Tod.»

Wir digitalen Lichtfresser

Gibt es etwas Trostloseres als die Vorstellung, dass wir selbst nach dem Tod noch auf Psychopharmaka angewiesen sein könnten? Ja, vielleicht diese Mutter in einer anderen Geschichte. Da will sie ihre Kinder von der Schule abholen – aber dann ist da kein einziges, das zu ihr angerannt kommt: «Alle waren vergeben.»

In einer der drastischeren Erzählungen hat eine Firma namens Mayflower eine digitale Version der esoterischen Idee der Lichtnahrung entwickelt. Echte Mahlzeiten seien schliesslich nicht mehr zeitgemäss: «Mahlzeiten waren nur Stress und Scherereien. Widerlich. Weil Sosse. Weil Gestank.» So hockt der bedauernswerte Mitarbeiter, der sich als Testperson gemeldet hat, nun vor seinem Display und lässt sich mit Lichtnährstoffen beschiessen. Leider fühlt sich das an wie eine Schrotladung und verbrutzelt ihm auf Dauer die Haut. Und am Ende dann doch – ein kleines, fragiles Wunder, eine Ahnung von Glück.

Wer diese Literatur einfach als bodenlos misanthropisch abbuchen will, verkennt sowieso, was Ben Marcus als Erzähler so besonders macht. Klar ist sein Blick radikal unsentimental, aber eben auf so eigenartige Weise wie bei einem Forscher, der mit untrüglichem Blick auf eine ausserirdische Lebensform schaut – und diese Aliens, das sind wir. Oder wie es an einer Stelle heisst: «Probten wir nicht alle für unsere Zukunft als Fossilien?»

Ben Marcus: Nachrichten aus dem Nebel. Storys. Aus dem amerikanischen Englisch von Jan Schönherr und Stefanie Jacobs. Hoffmann & Campe. Hamburg 2021. 384 Seiten. 36 Franken