Kino-Film «Ouistreham»: Ziel Mindestlohn

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Wäre da nicht Juliette Binoche am Bildrand, man wähnte sich in einem mit der versteckten Kamera aufgenommenen TV-Beitrag: «Sie müssen das online anpassen», erklärt die Sozialarbeiterin. «Aber ich sagte Ihnen doch bereits, dass ich mich gar nicht mehr einloggen kann, weil meine E-Mail-Adresse gesperrt wurde», antwortet der verzweifelte Klient. Das ist der vorzügliche Auftakt von Emmanuel Carrères Film «Ouistreham», in dem sich die von Binoche perfekt unprätentiös gespielte Autorin Marianne Winckler auf die Suche nach dem verlorenen französischen Arbeitsprekariat macht.

Dafür schleust Winckler sich undercover in die Schlangen vor dem Sozialamt ein, schlüpft Tag und Nacht in das gehetzte Leben einer Frau, die für ein paar Euros jeden Putzjob annehmen muss. Zeitgeistgerecht bringt man ihr dazu auch noch bei, mit welchen neoliberalen Slogans sie ihren traurigen CV verkaufen soll – und wie gross ihre Dankbarkeit zu sein hat, wenn eine Bewerbung klappt und sie ein paar Tage lang knapp den staatlich festgelegten Mindestlohn verdient.

«Ouistreham» holpert als Erzählung, überzeugt aber dank der Persönlichkeiten der Menschen, mit denen Marianne arbeitet, allen voran die so ruppige wie warmherzige Christèle (die grossartige Laiendarstellerin Hélène Lambert), mit der sie sich in «der Hölle» wiederfindet. So nennen Eingeweihte die Arbeit auf der Fähre, die von Ouistreham nach Portsmouth fährt und deren Schlafkabinen noch vor Sonnenaufgang von unterbezahlten Putzbrigaden in einem unmenschlichen Tempo wieder präsentabel gemacht werden müssen. Die Frage «Wie viel verdienst du?» wird unter diesen Working Poor zum Schlüssel einer klassenbewussten, freundschaftlichen Solidarität. Als Prekäre auf Zeit manövriert sich Winckler aber unweigerlich in ein menschliches Dilemma hinein. Am Ende, wenn sie als «Falsche» entlarvt ist und die Rollen sich wieder trennen, muss sie ausgerechnet diejenigen zurückweisen, denen sie ihre wertvollsten Einsichten verdankt.

Ouistreham. Regie: Emmanuel Carrère. Frankreich 2022. Nach der wahren Geschichte der Journalistin Florence Aubenas und ihrem Buch «Putze. Mein Leben im Dreck»