Pop: Fantasie der Tropenküste
Mit seinen Meridian Brothers entwirft Eblis Álvarez die musikalische Gegenwart aus lateinamerikanischer Perspektive. In St. Gallen hat er erklärt, wie Nostalgie als futuristische Methode funktioniert.

Man muss nur ein paar Minuten neben Eblis Álvarez sitzen, schon ist man um die halbe Welt und durch Jahrzehnte gereist. An die karibische Nordküste Kolumbiens etwa, wo die Nachkommen Schwarzer Sklav:innen in den 1970er Jahren die Musik des afrikanischen Kontinents neu entdeckten und feierten: ghanaischen Highlife, kongolesischen Soukous, südafrikanischen Mbaqanga. Diese Stile mischten sie mit karibischen Rhythmen und lokalen afrokolumbianischen Traditionen, woraus bald ein eigener Stil entstand: Champeta, eine am liebsten laut auf einem Soundsystem gespielte Tanzmusik.
Álvarez sitzt in einem der roten Kinosessel im Konzertlokal Palace in St. Gallen. Hier spielt er mit seiner Band, den Meridian Brothers, das letzte Konzert der aktuellen Europatour. Die Meridian Brothers hat er 1998 in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá gegründet. Die Alben nimmt Álvarez bis heute alleine in seinem Dachstock auf. Seit 2007 spielt die Band live, die Mitmusiker:innen sind alte Studienfreund:innen. Er liebe es zwar, alleine zu arbeiten, aber das Spiel mit der Band sei für ihn die tiefgreifendere Erfahrung, sagt Álvarez: «Eine Platte ist für mich eine Idee, umgesetzt in zwei Stereokanälen, aber live kommen die Sounds von überall, in jedem Raum auf ganz eigene Weise, die Musik wächst in alle Dimensionen.»
Wenn man zuschaut, mit welch organischer Präzision und verspielter Leichtigkeit sich die fünfköpfige Band auf der Bühne durch die Songs bewegt, geht schnell vergessen, wie konzeptuell der Komponist einst ans Werk gegangen ist. «Ich beginne mit einer kulturellen Referenz, nehme etwas aus dem kollektiven Unterbewusstsein, das ich liebe», erklärt Álvarez seine Methode. «Ich studiere die alten Platten, ihren Sound, die Intention, die Harmonien – dann mache ich meine eigene Version daraus, baue mir auf dieser Basis eine neue Welt.»
Aufblühen im Kollektiv
«Mi Latinoamérica sufre», das im Sommer erschienene neue Album der Meridian Brothers, geht auf eine einfache formale Idee zurück: Zwei Gitarren, die ineinander verschlungene Melodien spielen, fragen und antworten. Ultratrocken sollte der Sound dieser Gitarren sein, ohne irgendwelche Effekte, um Klischees der psychedelischen Musik zu vermeiden. Und dann in den Songs diese Verbindungen, wie sie damals etwa der kolumbianische Gitarrist Abelardo Carbonó, der «Patenonkel des Champeta», gemacht hat: afrikanische Melodien, die oft überbordend euphorisch klingen, kombiniert mit der versetzten lateinamerikanischen Rhythmik.
Etwas wuchtiger klingt diese auf der Bühne im «Palace», grundiert von Schlagzeug und Bass, vollendet von der Perkussionistin María Valencia, die die Eckpunkte der schwingenden Rhythmen setzt. Im Gegensatz zu Álvarez, der an Gitarre und Synthesizer eher entrückt wirkt und immer wieder in andere Rollen mit eigenen Gesangsstilen schlüpft, blickt Valencia eindringlich ins Publikum und schwenkt die Drumsticks wie eine Zeremonienmeisterin.
Faszinierend, wie kollektiv verzahnt diese Musik hier aufblüht, die Álvarez alleine ausbrütet und zusammenbastelt. Für «Mandala» hat er ein Video gedreht, das man auf Youtube sehen kann: Umringt von unzähligen Geräten und Instrumenten, sitzt er da in seinem Dachstock. Es sieht durchaus verschroben aus, wie der 47-Jährige mit seinen lockigen langen Haaren und dem zerzausten Bart in seiner Kammer werkelt, aber die filigranen, hypnotischen Grooves, die er dabei auf die Tonspur schichtet und aus seiner Gitarre perlen lässt, sind schlicht hinreissend.
Nirgends ist dieser kollektive musikalische Geist so offensichtlich wie beim Salsa, dessen komplexe Rhythmen für gewöhnlich auf mehrere Perkussionsinstrumente verteilt werden. Álvarez hat eine Theorie dazu, warum der Cumbia – ebenfalls ein wichtiger Referenzpunkt für die Meridian Brothers – im 21. Jahrhundert ein globales Revival erlebt, der Salsa hingegen nicht. Liegt das daran, dass der Cumbia näher an der «binären Logik» der Rockmusik liegt, wie Álvarez es nennt, mit ihren schweren Betonungen auf dem zweiten und vierten Schlag des Taktes, während sich der Salsa diesem einfachen Auf und Ab entzieht?
Salsa gegen die Polizei
Die Meridian Brothers spielen in St. Gallen auch ein paar Stücke von ihrem 2022 erschienenen Salsaalbum: «Meridian Brothers & El Grupo Renacimiento». Dessen Sound ist Salsaplatten aus den siebziger Jahren minutiös nachempfunden, aber weit gefehlt, wer hier jetzt plumpen Eskapismus erwartet. Das beginnt schon bei der angeblichen Kooperation: Die Salsaband El Grupo Renacimiento, über die es sogar einen gezeichneten Kurzdokfilm von Mateo Rivano gibt, ist fiktiv. Und Álvarez lässt sie über Atombomben und Roboter singen. In St. Gallen spielen die Meridian Brothers etwa den Antipolizeisong «La policía» von diesem Album, der auch eine Alternative zur Repression vorschlägt: «Anarquía absoluta, la solución».
Retrofuturismus, könnte man sagen. Die Meridian Brothers bedienen diesen als Ästhetik, etwa im Klang mancher Synthesizer, aber auch als Hinweis auf historische Potenziale. Das Album «Cumbia Siglo XXI» (2020) ist eine Hommage an die legendäre Band Cumbia Siglo XX, die schon damals eine futuristische Version von Cumbia entworfen hat, von den Meridian Brothers noch mal mit verstrahlter Elektronik fürs nächste Jahrhundert aktualisiert. Nostalgie ist auch eine Methode, um an etwas zu erinnern und es wieder aktuell zu machen: wie es die afrokolumbianische Community damals mit den Sounds aus Afrika machte und wie es Álvarez wieder macht, wenn er diese Aneignungen und Verschmelzungen aufdröselt und neu verbindet.
Apropos Aneignung, was sagt eigentlich einer zur heute oft geführten Diskussion, dessen Werk quasi ein Festspiel von Aneignungen ist? Álvarez hält wenig davon: «Wenn man sich mit solchen Ideen beschäftigt, fällt auf: Diese Hightechphilosophie wird an Universitäten in der sogenannten ersten Welt fabriziert, sie teilt die Kultur in gut und schlecht ein und will die kulturellen Kombinationen der Menschheit limitieren.» Was tun mit dem Problem? Zurück an den Absender!
Natürlich ist einem wie Álvarez bewusst, dass eine interessante Aneignung viel mehr mit Projektion als mit Diebstahl zu tun hat. Für ihn kristallisiert sich das an Barranquilla, der Stadt an der kolumbianischen Küste, aus der sein Vater stammt. Álvarez ist in Bogotá aufgewachsen, der Metropole, in der Cumbia und die Musik der Küste, die «Tropicalista», Ende der neunziger Jahre noch als uncoole Folklore galten. Doch Álvarez, klassisch ausgebildet als Gitarrist und Komponist, hat diese Musik geerbt und immer geliebt. «Ich wuchs auf mit der Nostalgie für eine Stadt, die ich bis auf gelegentliche Besuche bei meiner Grossmutter überhaupt nicht kannte», erzählt er. «Also habe ich mir eine Fantasie davon kreiert. Viele meiner Songs handeln von einem Leben, das ich selber nie geführt habe.»
Springfield auf Spanisch
Álvarez erzählt von Musikern, die ihre eigenen Versionen von Stücken aus Afrika aufnahmen, wobei sie Wörter aus ihnen unbekannten Sprachen einfach in ähnlich klingendes Spanisch übertrugen. Die Meridian Brothers eignen sich auch dieses Verfahren an, «Cumbia del pichamán» heisst ihre Version eines weltbekannten Songs von Dusty Springfield, die phonetische Übertragung exotisiert den «Preacher Man» aus dem englischen Original. In der Übersetzung hat Álvarez die sexuellen Anspielungen noch etwas betont, der Sohn des Pfarrers ist jetzt eine … «piep» – und der von der Perkussionistin ausgelöste Zensurton, ist das wiederum eine Aneignung aus der etwas nördlich von Kolumbien praktizierten TV-Kultur?
In den humoristischen Momenten, von denen es in dieser Musik so viele gibt, wird plötzlich etwas ausgestellt, ins Bewusstsein gerufen. Auf der anderen Seite wuchert das Psychedelische, die sich windenden Melodien und verpeilten Gesänge, driftende Gitarrenläufe, die in manchen der neuen Songs aus der Harmonik zu schlingern scheinen. Als Finale stimmt die Band im «Palace» eine Reggaetonversion von Jimi Hendrix’ «Purple Haze» an, zerstückelt das mächtige Riff auf Gitarre und Synthesizer, und auch dieser wild federnde und gleichzeitig druckvolle Beat macht diesen Song nur jenseitiger.
