#MeToo in Ägypten: «Ich weiss, dass ich nicht allein bin»

Nr. 11 –

Einem bekannten Regisseur werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen; vor Gericht steht nun aber die renommierte Frauenrechtlerin Rasha Azab, die sich öffentlich mit den Betroffenen solidarisiert hatte. Doch die ägyptische Frauenbewegung lässt sich nicht zum Schweigen bringen.

Da ist die Frau, die beschreibt, wie I. A. ihr an die Brust fasste. Als sie ihn später konfrontierte, sagte er, es sei nur ihre Schulter gewesen. Da ist die Frau, die erzählt, wie sie von ihm nach Hause eingeladen wurde und er sie dort ungefragt küsste, als sie in der Küche stand. Als sie sich wehrte, behauptete er, er habe ihre Zeichen falsch verstanden. Da ist die Frau, die erzählt, wie I. A. – wie er auf dem Blog «Daftar Hekayat» genannt wird – sie unter Einfluss von Alkohol und Drogen vergewaltigte.

Und da ist Rasha Azab. Sie war eine von vielen, die sich in den sozialen Medien mit den Betroffenen solidarisierten – und wurde von I. A. verklagt. Azab, eine ägyptische Journalistin und Autorin, kämpft seit über zwanzig Jahren für Menschen- und Frauenrechte in ihrem Heimatland. Als im Dezember 2020 mehrere Frauen anonym ihre Erfahrungen mit I. A. veröffentlichten, schrieb sie auf Twitter, dass sie ihnen glaube und sie unterstütze.

Der Kläger: Islam el-Azazi. Er ist ein bekannter Filmregisseur. Sein Film «About her» feierte just in jenen Tagen Premiere, als die Vorwürfe gegen ihn öffentlich wurden. Weil sie als nicht bewiesen galten, verzichtete das Internationale Filmfestival Kairo darauf, ihn auszuladen. Er selbst stritt die Vorwürfe ab – mehr noch: Er erstattete Anzeige gegen Rasha Azab wegen Verleumdung.

Die Welle der Empörung

Dieser kafkaeske Prozess gegen die Frauenrechtlerin Azab, dessen zweiter Verhandlungstag am vergangenen Samstag in Kairo stattfand, ist emblematisch für die Situation der Frauen und ihrer Rechte in Ägypten: Statt dass die Staatsanwaltschaft die Vergewaltigungsvorwürfe untersucht, muss sich eine Frau vor Gericht verantworten, die sich mit den Betroffenen solidarisierte. Statt dass über eine mögliche Anerkennung des Geschehenen oder gar eine Wiedergutmachung verhandelt wird, stellt sich die Frage, ob man in Ägypten nun schon wegen öffentlicher Anteilnahme ins Gefängnis kommen kann. «Darum geht es bei meinem Fall», sagt Rasha Azab im Gespräch mit der WOZ. «Damit die Überlebenden nicht mehr über das Erlebte reden und wir uns nicht mit ihnen solidarisieren.»

Dabei zeigt die Veröffentlichung der Vorwürfe gegen Azazi gerade auch, dass ägyptische Frauen nicht mehr bereit sind, über sexuelle Übergriffe zu schweigen. Ein halbes Jahr bevor die Vorwürfe gegen den Regisseur publik gemacht wurden, lösten im Sommer 2020 in Ägypten zwei Vorfälle eine Welle der Empörung aus: Zuerst, als ein Instagram-Account namens «Assault Police» Dutzende Berichte von Frauen veröffentlichte, die alle vom selben 21-jährigen Studenten belästigt oder gar vergewaltigt worden waren. Wenig später kursierten in den sozialen Medien Videos einer Massenvergewaltigung 2014 im Luxushotel Fairmont in Kairo. Die Täter, Söhne einflussreicher Familien, fühlten sich offenbar so sicher, dass sie kein Problem damit hatten, auf den Aufnahmen mit ihrem Gesicht erkennbar zu sein. In der Folge teilten zahlreiche Frauen in den sozialen Medien ihre Erfahrungen: Die #MeToo-Bewegung erreichte Ägypten.

Der Blog «Daftar Hekayat» (Geschichtenbuch) veröffentlichte in jener Zeit zahlreiche anonyme Erfahrungsberichte. Neben den Texten von Frauen, die die Übergriffe von Islam el-Azazi beschreiben, ist von ähnlichen Vorwürfen etwa gegen den renommierten Investigativjournalisten Hisham Allam zu lesen. Das ist das Verstörende an diesem Blog – und mehr noch an der Reaktion Azazis, gegen die Frauenrechtlerin Azab rechtlich vorzugehen: dass die Täter, die nur mit Initialen genannt werden, aus einem liberalen Milieu kommen, Männer, die doch eigentlich Verbündete sein sollten.

«Das sind unsere progressiven Künstler, die behaupten, rückständige Gesellschaftsbilder zu bekämpfen», sagt Rasha Azab. Doch wenn es um den eigenen Ruf gehe, seien sie dann doch bereit, diese auszunutzen. «Aber die Leute haben begriffen, dass Frauenrechte nicht etwas sind, das ausserhalb von ihren politischen Kämpfen liegt.» Das ist eine neue Entwicklung. «Wenn wir während der Revolution über Frauenrechte sprachen, hiess es immer: Das ist nicht der richtige Zeitpunkt», so Azab.

Das Regime gibt sich als Beschützer

Für die Frauenbewegung war die Revolution 2011 dennoch zentral. Während dieser Zeit formierten sich zahlreiche neue feministische Gruppen, unter ihnen viele, die sich gegen die weitverbreitete sexuelle Belästigung einsetzten. So patrouillierte etwa eine Gruppe Frauen während der Proteste, um bei Übergriffen einschreiten zu können. «All das hat den Weg dafür geebnet, dass Frauen heute ihre Stimme erheben», sagt die ägyptische Menschenrechtsexpertin Salma El Hosseiny, die für die NGO International Service for Human Rights (ISHR) in Genf arbeitet. Immer mehr Frauen fingen an, sich öffentlich zu äussern. Sie traten im Fernsehen auf, begannen, Belästigungen und Übergriffe öffentlich beim Namen zu nennen.

Doch ihnen gegenüber stehen eine noch immer mehrheitlich konservative Gesellschaft und ein politisches Regime, das sich zwar gerne als Beschützer der Frauenrechte präsentiert, in der Realität jedoch weit davon entfernt ist. «Das Narrativ des jetzigen Regimes lautet: Die Muslimbrüder wollten die Gesellschaft zurück ins Mittelalter führen. Dann kamen wir und haben die Frauen gerettet», sagt Hosseiny in Anspielung auf die Partei des früheren Präsidenten Muhammad Mursi, der 2013 vom Militär gestürzt wurde. Der jetzige Präsident, Abdel Fattah al-Sisi, inszeniert sich und sein Regime gerne als säkular im Gegensatz zur streng religiös motivierten Vorgängerregierung. «Aber meine Frage ist: Ist es wirklich so anders als das der Muslimbrüder?»

Zwar gab es positive Veränderungen. Sisis Kabinett hat acht Ministerinnen, so viele Frauen wie noch nie. Auch wurden 2021 Frauen endlich für die Arbeit als Richterinnen und Staatsanwältinnen in den letzten zwei nur von Männern besetzten Institutionen der Justiz – der Strafverfolgung und der Staatskanzlei – zugelassen. Sexuelle Belästigung wurde 2014 erstmals als Straftatbestand aufgenommen. In der Praxis allerdings, so Hosseiny, habe sich kaum etwas geändert. Im Gegenteil: Frauen, feministische und LGBTIQ*-Aktivist:innen kommen immer mehr unter Druck.

Ein anschauliches Beispiel ist die Geschichte der Tiktok-Influencerinnen. Im Frühling 2020 verhaftete die Polizei mehrere junge Frauen, die auf Tiktok-Videos modische Kleidung trugen und tanzten. Zwei von ihnen wurden wegen «Verstoss gegen familiäre Werte der ägyptischen Gesellschaft» zu zwei Jahren Gefängnis und 20 000 US-Dollar Strafe verurteilt. Noch absurder war der ursprüngliche Verhaftungsgrund: Verdacht auf Menschenhandel; denn eine von ihnen hatte anderen Frauen in einem Video erklärt, wie sie in den sozialen Medien Geld verdienen könnten. Aufmerksam auf das Video wurde die Staatsanwaltschaft offenbar durch Posts von anderen Nutzer:innen auf den sozialen Medien, die sich darüber beschwert hatten.

Gegenüber dem beflissenen Vorgehen der Behörden im Fall der jungen Influencerinnen stehen die meist schleppenden Ermittlungen, wenn es um Vorwürfe von sexueller Gewalt geht. Als die Aufnahmen der Massenvergewaltigung im Hotel Fairmont auftauchten, dauerte es Wochen, bis die Staatsanwaltschaft die ersten Verhaftungen anordnete. Zu diesem Zeitpunkt hatten sieben der neun Verdächtigen bereits das Land verlassen – drei von ihnen wurden später im Libanon verhaftet und nach Ägypten ausgeliefert.

Ablenkung von der Pandemie

Neben den Beschuldigten wurden zudem drei Zeug:innen festgenommen, die sich auf einen Aufruf der Behörden bei der Polizei gemeldet hatten – ein weiteres Beispiel dafür, wie der ägyptische Staat eher gegen Whistleblower:innen vorgeht, statt die Taten selbst zu ahnden. Erst Monate später und unter Druck von Frauenrechtsgruppen wurden sie wieder freigelassen. Im Mai 2021 wurden dann allerdings auch alle Verdächtigen freigelassen – es gebe nicht genug Beweise, so die Staatsanwaltschaft.

Die Gründe, warum das Regime immer wieder so repressiv gegen Frauen und feministische Aktivist:innen vorgeht, obwohl es doch um ein fortschrittliches Image bemüht ist, mögen im Einzelnen variieren. Im Fall der Tiktok-Influencerinnen habe das Regime versucht, einen Skandal zu konstruieren, um vom eigenen Scheitern in der Pandemiepolitik abzulenken, wird der Anwalt Hassan al-Mazhari in einem Artikel der NGO Smex zitiert, die sich für digitale Rechte einsetzt.

Im Fall von Rasha Azab vermuten viele Menschenrechtsaktivist:innen, dass die Anzeige gegen sie einen willkommenen Vorwand für das Regime bot, gegen eine missliebige und einflussreiche Kritikerin vorzugehen. Denn die Repression gegen Kritiker:innen hat unter Präsident Sisi Dimensionen angenommen, die auch jene zu Hosni Mubaraks Zeiten (1981–2011) übersteigen. Für Menschenrechtlerin Hosseiny lautet die zentrale Frage daher: «Wie kann der Staat behaupten, dass Frauenrechte Priorität hätten, wenn er keine unabhängige Organisation von Frauenrechtler:innen erlaubt?»

Mit dem Prozess gegen Rasha Azab wird zudem deutlich, wie eine patriarchale Gesellschaft und der repressive Staat sich gegenseitig in die Hände spielen. Doch ihre Taktik, betroffene Frauen zu isolieren, scheint nicht mehr richtig aufzugehen. Die Angeklagte selbst sagt über ihren Prozess: «Ich weiss, dass ich nicht allein bin.»