Humanitäre Krise: Dann flogen die Bomber tiefer

Nr. 13 –

Medikamente und Essen: Den Menschen in den belagerten Städten der Ukraine fehlt es an allem. Jene, die flüchten konnten, berichten vom Horror der Blockade. Freiwillige sorgen derweil dafür, dass Hilfe die umkämpften Gebiete erreicht.

Wiktor Kiptscharski ist der Hölle von Mariupol gerade noch entkommen. Am 16. März packte er seine Frau, die Kinder und die Enkel ins Auto und verliess die Stadt. «Ich schäme mich, weil wir niemanden mitnehmen konnten», sagt er am Telefon. Kiptscharski ist 62, hat bis vor kurzem noch an der technischen Universität Maschinenbau unterrichtet. Das Quartier, in dem er vor seiner Flucht lebte, sei in den ersten Wochen der Blockade «relativ ruhig» gewesen. «Wir wurden nicht beschossen, vor unserem Haus lagen keine Toten, in den Wohnungen war es noch warm, wir hatten Wasser aus nahe gelegenen Quellen und geschmolzenem Schnee, mussten nicht hungern», erzählt er.

Was Kiptscharski auch klarstellt: dass seine Situation alles andere als typisch für die Lage in Mariupol war. «Ich habe für alles immer eine Erklärung, doch dass in unserem Haus niemand starb, ist ein Wunder.» Gerettet habe sie wohl ein riesiger Schlackeberg aus einer nahe liegenden Metallgewinnung, der das Viertel dahinter vor den Bomben schützte. Gerade weil er Glück gehabt habe, sei er verpflichtet zu berichten.

Mariupol, die einst stolze Hafenstadt am Asowschen Meer, ist längst zum Symbol für den brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geworden – einen Krieg, in dem Spitäler bombardiert und humanitäre Korridore beschossen werden. Laut den Behörden sollen dort mehr als 5000 Personen getötet worden sein.

Ein Fass Heringe und Borschtsch

Wenn Wiktor Kiptscharski über die Kriegstage in Mariupol spricht, lässt er kein Detail aus – als gäbe es ihm Sicherheit, sich daran festzuhalten. Jedes Lebensmittel, in dessen Genuss seine Familie noch kam, erwähnt er. Als es kein Gas mehr gab, sammelten die Nachbar:innen Holz, hoben im Hof eine Grube aus und bauten einen improvisierten Ofen. Alle halfen sich gegenseitig. Einmal habe jemand ein Fass voller Heringe gebracht, eine Frau Borschtsch für alle gekocht. Weil es im Hof einen Generator gab, seien die Leute aus dem Quartier gekommen, um ihre Handys zu laden. «Aber wozu? Eine Verbindung gab es ja meistens nicht.» Für die psychische Gesundheit sei das sicher besser gewesen. «Hätten wir gesehen, was um uns herum passiert, wir wären durchgedreht.»

Mit seinem Radio konnte Kiptscharski noch ukrainische Sender empfangen; als er hörte, dass es einen Weg aus der Stadt gab, fuhren sie los: über russische Checkpoints und die Stadt Berdjansk nach Saporischschja, wo sie in einem Kindergarten Unterschlupf fanden. «Ich werde nie vergessen, wie die Frauen mitten in der Nacht aufgestanden sind, um Kartoffeln zu schälen, damit wir am nächsten Tag was zu essen haben. Sie sind Heldinnen.» Die Hilfsbereitschaft der Menschen, denen er begegnet ist, sei grenzenlos gewesen, betont er.

Inzwischen ist er in Lwiw angekommen. Am schlimmsten sei, dass er seine Verwandten in Mariupol nicht erreichen könne. So wie ihm geht es vielen: In den sozialen Medien suchen die Leute verzweifelt nach ihren Angehörigen. Jede Vermisstenmeldung das Zeugnis eines zerbrochenen Lebens.

Rund 160 000 Menschen sind noch immer in der praktisch vollkommen zerstörten Stadt eingeschlossen. «Sie sitzen in der Falle, haben weder Essen noch Wasser, weder Medikamente, Heizung noch Strom, brauchen dringend sicheres Geleit aus der Stadt und humanitäre Unterstützung. Das ist keine Option, sondern die Verpflichtung der Kriegsparteien aus dem humanitären Völkerrecht», schreibt ein IKRK-Vertreter auf Anfrage. «Das immense Leid der Menschen in Mariupol darf nicht zur Zukunft der ganzen Ukraine werden.»

Erschütternd ist die Lage auch an Orten wie Tschernihiw unweit der belarusischen Grenze. Vor dem Krieg lebten über 280 000 Menschen dort, die Stadt mit ihren vielen Kirchen und Klöstern strebte den Status des Weltkulturerbes an. Geblieben sind weniger als die Hälfte. «Tschernihiw ist komplett zerstört. Es ist einfacher, jene Häuser zu zählen, die ganz geblieben sind», sagte Bürgermeister Wladislaw Atraschenko am Wochenende.

Wie Mariupol ist Tschernihiw, das an einer wichtigen Verbindungsstrasse nach Kiew liegt, inzwischen von russischen Truppen umstellt. Ähnlich katastrophal ist auch die Versorgungslage. Und wie in Mariupol können bloss jene vom Horror der Blockade berichten, denen die Flucht gelang. So wie Wiktoria Lazarenko, die bis vor kurzem noch Direktorin eines Nähereibetriebs war und im Stadtparlament politisierte. «Ich habe zwei Wochen im Keller verbracht und wollte die Stadt eigentlich nicht verlassen», schreibt die 32-Jährige per Messenger. Als die Flugzeuge mit den Bomben immer tiefer flogen, entschied sie sich, doch zu gehen. Inzwischen ist sie in der Westukraine; ob ihr Haus noch steht, weiss sie nicht.

Die Situation in Tschernihiw sei schrecklich: Es gebe keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser. Zuerst hätten die Menschen noch humanitäre Hilfe bekommen, dann sei die Brücke über den Fluss von der russischen Armee zerstört und damit die Versorgung unterbrochen, der Fluchtweg abgeschnitten worden. Als Freiwillige versucht hätten, Essen per Boot zu liefern, seien sie beschossen worden. «Die Russen haben uns alles genommen: unsere Häuser, die Arbeit, die Zukunft und so viele Leben.»

Achtzehn Millionen Hilfsbedürftige

Das Leid der ukrainischen Bevölkerung spiegelt sich nicht nur in Geschichten wie jener von Wiktor Kiptscharski und Wiktoria Lazarenko. Auskunft darüber geben auch die Zahlen. Laut einer Schätzung des IKRK benötigen achtzehn Millionen Menschen humanitäre Hilfe. Wie das Uno-Nothilfebüro OCHA bekannt gab, haben bisher aber bloss 900 000 Personen solche erhalten. Auch die Versorgung mit Lebensmitteln sei schwierig, wie die Ernährungsorganisation der Uno (FAO) mitteilte. Sie erwartet, dass in mehr als vierzig Prozent des Landes das Essen bald knapp wird.

Über 500 Tonnen Medikamente, Essen und andere Hilfsgüter hat das IKRK nach eigenen Angaben seit Kriegsbeginn in die Ukraine gebracht. Doch ohne die Arbeit der kleineren NGOs und unzähliger Freiwilliger wäre die Versorgung der Menschen im kriegsversehrten Land kaum möglich. Wie das funktioniert, berichten der Schweizer Luzius Etter und die Deutsche Ira Ganzhorn im Videocall aus Uschhorod, wo sie zurzeit im Auftrag der NGO Libereco bei deren ukrainischer Partnerorganisation Vostok SOS Essen, Hygieneartikel oder Medikamente aus ganz Europa organisieren. Von dort aus werden dann Züge mit Hilfsgütern ins Landesinnere geschickt. «Weil die Evakuierungszüge aus Schlafwagen bestehen, können wir nicht mit Paletten arbeiten, müssen die Güter einzeln auf die Coupés verteilen», erzählt Etter.

«Wir bekommen Bedarfslisten und versuchen, sie dann aus unserem Bestand zusammenzustellen», sagt Ganzhorn. In den ersten drei Wochen hätten sie 200 Tonnen verschickt. Ein Knackpunkt sei, wer die Güter in jenen Städten verteile, die unter Beschuss stünden. Zur Herausforderung werde auch, dass in der EU bereits manche Güter knapp würden, die Slowakei etwa habe auf Medikamente einen Exportstopp verhängt, man bekomme bloss noch handelsübliche Mengen. «Auch der erhöhte Bedarf an Lebensmitteln macht sich bemerkbar.»

Knapp vierzig Kilometer südöstlich von Uschhorod, in Mukatschewo, koordiniert die 26-jährige Nastja Woschowa indes Hilfe für die zurzeit wieder heftig umkämpfte Millionenstadt Charkiw. Am ersten Kriegstag ist sie mit ihrem Mann, den Hunden und Katzen zu ihrem Vater in die Transkarpaten geflohen. In Charkiw betrieb sie ein Restaurant, das inzwischen den Bomben zum Opfer gefallen ist, zum Glück sei ihr Haus noch ganz. In Mukatschewo angekommen, suchte Woschowa gleich nach Möglichkeiten, um den Menschen im Osten zu helfen.

«Ich kann ja nicht Nein sagen»

Nun erhält sie bis zu 150 Anfragen pro Tag – von jenen, die die Stadt nicht verlassen haben, weil sie nirgendwohin können, alt oder krank sind, von jenen, die dringend auf Medikamente und Essen angewiesen sind. Woschowa, ihr Mann und die anderen Freiwilligen sammeln Güter aus ganz Europa und bringen sie quer durchs Land in ein Sammellager in Charkiw, von wo aus Fahrer:innen diese dann an die Bedürftigen verteilen. Die Stadt selbst sei «mehr oder weniger» versorgt, auch wenn viele Quartiere völlig zerbombt seien, sagt Woschowa. «Doch in den Vororten hungern die Menschen, dort hinzufahren, ist sehr gefährlich, weil die Autos beschossen werden.» Oft bekomme sie Anfragen, die nur schwer zu erfüllen seien. «Aber ich kann ja nicht Nein sagen, wenn die Leute um Hilfe bitten.»