Krieg in Gaza: Eine Stadt will nicht sterben

Nr. 36 –

In Gaza-Stadt herrscht Angst vor dem bevorstehenden Angriff Israels. Viele haben sich trotz Hunger und Zerstörung wieder ein Leben aufgebaut. Bald könnten sie erneut vor dem Nichts stehen.

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Mitarbeiter von Muhammad Arefs Restaurant bei der Arbeit
Mitarbeiter von Muhammad Arefs Restaurant: Eine Reisfüllung für einen der grossen Kochtöpfe für die humanitäre Verteilung kostet umgerechnet 470 Franken.

Wael Chalifa fürchtet, dass seine 76 Patient:innen in Gaza-Stadts einziger Rehabilitationsklinik al-Wafaa ihren Weg zur Gesundung nicht fortsetzen können. Wenn Israels Armee die Stadt wie angekündigt angreift und einnimmt, werden sie trotz amputierter Gliedmassen oder Querschnittlähmungen ein weiteres Mal fliehen müssen. «Ich würde lieber sterben, als noch einmal vertrieben zu werden», sagt der 49-jährige Neurologe. «Meine Heimat bedeutet mir sehr viel.» Seit Kriegsbeginn vor bald zwei Jahren musste Chalifa bereits fünf Mal fliehen. Die Bedingungen, unter denen sie im Süden des Gazastreifens gelebt hätten, seien extrem schwierig gewesen. «Wir lebten – wie alle aus dem Norden geflüchteten Menschen – in einem Zelt, es war ein steter Kampf um Nahrung und Wasser, ein Leiden im Sommer wie auch im Winter», sagt Chalifa.

Aus dem Fenster der Klinik im bisher weniger verwüsteten Stadtzentrum fällt der Blick auf die Vorstädte weiter östlich. Über einer Ruinenlandschaft hängen Rauchwolken, auf Brachflächen reihen sich weisse Zelte aneinander. Viele der Geflüchteten waren wie Chalifa während der kurzen Waffenruhe Anfang des Jahres aus dem Süden zurückgekehrt und hatten versucht, ihr Leben trotz des andauernden Krieges wieder aufzubauen. Mitte März brach Israel die Waffenruhe, nahm die täglichen Luftangriffe wieder auf und verhängte eine vollständige Blockade, die erst Ende Mai leicht gelockert wurde.

Nun rücken wenige Kilometer entfernt israelische Soldat:innen bereits gegen Dschabalia und Vororte von Gaza-Stadt vor, wo laut Schätzungen noch immer bis zu einer Million grösstenteils ausgehungerte Menschen leben. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hält weiter um jeden Preis am Plan zur Einnahme der Stadt fest, gegen den Widerstand seines eigenen Generalstabschefs und trotz Massenprotesten im Inland und lautstarker internationaler Kritik.

Die Menschen wissen nicht, wohin

Zwischen den Behandlungszimmern eilen Pfleger:innen hin und her. Die Männer und Frauen in den Betten blicken erschöpft, manche tragen Verbände. Vielen wurden Arme oder Beine amputiert, nachdem sie Bombenangriffe überlebt hatten. «Ein Viertel der Patient:innen sind Kinder», sagt Chalifa beim Gang durch die Klinik. «Manche haben beide Eltern verloren, Mütter ihre Kinder.» Er finde oft kaum in den Schlaf, wenn er sich vorstelle, mit welchem Schmerz seine Patient:innen leben müssten.

Seit Februar, nach dem Beginn der Waffenruhe, hat die Klinik wieder geöffnet. Es mangelt an Rollstühlen, Krücken, Verbänden und Schmerzmitteln, doch die Patient:innen im al-Wafaa bekommen Physiotherapie und Übungen zur besseren Heilung. Weil die Warteliste sehr lang ist, geschieht das häufig in Anwesenheit von Angehörigen, die die Behandlung zu Hause fortsetzen. «Familientherapie» nennt Chalifa das.

Angesichts der bevorstehenden Offensive bereitet sich die Klinikleitung auf die Evakuierung vor. Über die Weltgesundheitsorganisation WHO könnten eventuell einige Krankenwagen für einen Transport in die zwanzig bis dreissig Kilometer entfernten Gebiete im Süden organisiert werden. «Die meisten unserer Patient:innen sind zusätzlich unterernährt», sagt Chalifa. Zwar erhalte die Klinik von Hilfsorganisationen Essen, mehr als Reis, Linsen oder Kartoffeln gebe es aber selten. Viele hätten deutlich an Gewicht verloren, es fehlten Nährstoffe, die der Körper zur Heilung brauche.

Vor allem aber weiss niemand, wohin die Menschen gehen sollen. Laut den Vereinten Nationen stehen mehr als 86 Prozent des Gazastreifens unter Evakuierungsbefehlen oder sind als militarisierte Zonen ausgewiesen. Im sandigen Küstenstreifen al-Mawasi sitzen laut dem Palestinian NGO Network bereits jetzt mehr als eine halbe Million Menschen ohne Infrastruktur fest. Um die Menschen zur Flucht in den Süden zu bewegen, liess Israel zuletzt vermehrt Zelte im Küstenstreifen aufstellen. Laut Medienberichten sollen eine halbe Million Menschen nördlich des Morag-Korridors nahe der zerstörten Stadt Rafah Platz finden.

Weitermachen in Trümmern

Gegenüber der Klinik liegt der Haushaltswarenladen von Mahmoud Abu Schaaban. Der 23-Jährige trägt eine schmale Brille und einen modischen Bart. An der Wand hinter seinem Schreibtisch haben Schrapnelleinschläge Spuren hinterlassen. In der Mitte des Geschäfts stapeln sich weisse Keramikteller. Auf den Wandregalen stehen Kochtöpfe. «Good vibes only» ist auf einen Standmixer gedruckt. «Vor dem Krieg hatte ich alles: ein Haus, ein Auto, ein Geschäft», sagt Schaaban. Als er im Januar nach seiner zehnten Flucht aus dem Süden zurückkehrte, fand er Haus und Lager zerstört vor. «Was ich hier verkaufe, habe ich teuer besorgt, um weitermachen zu können.» Wenn er noch einmal alles verliere, müsse er «bei weniger als null» wieder anfangen.

Er wollte bereits bei Kriegsbeginn nicht gehen, sagt Schaaban. Bis eine Bombe im Nachbarhaus eingeschlagen habe. Eine ferne Explosion lässt die Teller beben. Immer wieder greift Israel auch Ziele innerhalb der Stadt an. An die ständige Angst vor den Bomben gewöhne man sich nicht, sagt Schaaban. «Wir werden nur besser darin, den Schock zu bewältigen, der mit jedem Einschlag kommt.» Vor kurzem sei sein Cousin auf offener Strasse getötet worden, als neben ihm eine Bombe in ein Haus einschlagen habe.

Das 1980 von den Grosseltern gebaute Haus, in dem er wohnt und seinen Laden hat, sei ausgebrannt, aber nicht eingestürzt. Nach ihrer Rückkehr konnten sie zwei von sechs Wohnungen wieder so weit herrichten, dass die Familie darin zusammen Platz fand. «Ich würde lieber hungern, als das Haus noch mal zu verlassen.» Doch am Ende liege es nicht in seiner Hand. «Überleben ist am wichtigsten.»

Israels Armee setzt zunehmend auf Luftschläge, von Drohnen abgeworfene Sprengsätze und mit Sprengstoff gefüllte ferngesteuerte Fahrzeuge, die ganze Gebäudeblöcke zerstören. So sollen Soldaten geschont und Sprengfallen und Tunnels ausgeschaltet werden. Von Gaza-Stadt dürfte dabei wenig übrig bleiben – ganz im Sinne von rechtsextremen Regierungsmitgliedern wie Finanzminister Bezalel Smotrich, die offen eine Vertreibung der Palästinenser:innen und eine jüdische Wiederbesiedlung befürworten.

Kaum Eier oder Gemüse

Drei Querstrassen entfernt, auf der Al-Wahda-Strasse, betritt Chef Hamada, der mit richtigem Namen Muhammad Aref heisst, sein im Februar eröffnetes Restaurant. Im hinteren Teil des «Chef Hamada» reihen sich auf grossen Gaskochern gewaltige Töpfe, in denen Linsen und Reis für die Verteilung durch Hilfsorganisationen zubereitet werden. Im vorderen Bereich servieren der 35-Jährige und sein dreissigköpfiges Team Milchshakes und Pizza für jene, die für einen Moment Normalität umgerechnet zwanzig bis dreissig Franken zahlen können.

Werbung für sein Geschäft macht Aref vor allem auf Instagram, wo ihm mittlerweile fast 70 000 Menschen folgen. Der potenziellen Kundschaft präsentiert der stets gut gelaunte Aref dort Schokoladenkuchen mit NutellaGlasur, Pancakes und Waffeln – ausgerechnet in Gaza-Stadt, für das Uno-Expert:innen der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) erst Anfang August eine Hungersnot ausgerufen hatten. Das fiel auch israelischen Influencer:innen und dem israelischen Aussenministerium auf, die seine Videos seither für ihre Behauptung nutzen, die Hungersnot im Gazastreifen sei «Hamas-Propaganda».

Aref, der jenseits der sozialen Medien sehr viel ernster ist, macht das wütend. «Von meinem Geschäft leben allein in meiner Familie siebzig Menschen, natürlich mache ich Werbung, um Kundschaft zu bekommen.» Kurz nach der Veröffentlichung des IPC-Berichts habe Israel zudem kommerzielle Transporte wieder genehmigt, darunter ebenjene Nutella-Gläser. Umgerechnet fast 85 Franken habe er für ein Glas bezahlt.

Die zwischenzeitlich horrenden Preise seien mittlerweile leicht gesunken, der Hunger aber geblieben. Derzeit koste eine Reisfüllung für einen der grossen Kochtöpfe für die humanitäre Verteilung umgerechnet 470 Franken, im Juli sei es noch dreimal so viel gewesen. Satt würden bei der Verteilung der Nahrungsmittelhilfen trotzdem nicht alle. Proteinreiche Lebensmittel wie Fleisch oder Eier sowie Früchte und Gemüse gebe es zudem weiterhin kaum. In Vorbereitung auf die Offensive auf Gaza-Stadt gewährt Israel zudem keine Waffenruhen für Hilfstransporte in den Norden mehr, seither ziehen die Preise wieder an.

Israels Führung hatte seit dem einseitigen Bruch der Waffenruhe im März Hilfslieferungen vollständig blockiert. Seitdem werden Lebensmittel unter anderem über Zentren der von Israel und den USA gestützten Gaza Humanitarian Foundation verteilt (siehe WOZ Nr. 28/25). In der Nähe ihrer Zentren wurden seit Mai mehr als 2000 Hilfesuchende erschossen, die meisten von der israelischen Armee. Laut dem IPC-Bericht könne sich die Hungersnot bis Ende September auf den gesamten Gazastreifen ausbreiten.

Olga Cherevko, die für das Uno-Nothilfebüro OCHA in Gaza arbeitet, warnt zudem, dass auch Videos von Märkten kein Beweis gegen die Existenz einer Hungersnot seien. Selbst die gesunkenen Preise blieben für den Grossteil der Bevölkerung weiter unbezahlbar: «Die meisten Familien haben nach fast zwei Jahren ohne Einkommen ihre Ersparnisse aufgebraucht», sagt Cherevko am Telefon. Nutella, Chips und Instantnudeln könnten zudem niemanden gesund machen, der über Monate schwer unterernährt gewesen sei. Um eine Katastrophe zu verhindern, müsse der Gazastreifen mit Hilfsgütern «überschwemmt» werden.

Der Krieg vor der Glastür

Im «Chef Hamada» ist wenig los, vor der Tür ziehen Menschen mit leeren Töpfen auf dem Weg zu Ausgabestellen für humanitäre Hilfe vorbei. Im Restaurant spielt Musik, unterbrochen vom Klappern der Küchengeräte. Der Krieg liegt vor den Glastüren: Vom Nachbarhaus stehen nur noch die Grundmauern, neben der ehemaligen Tankstelle gegenüber steht ein Zeltlager mit Geflüchteten.

«Wir wollten mit dem Restaurant neben einem Einkommen für uns auch ein Stück Normalität schaffen», sagt der Unternehmer Aref, der mit sechzehn Jahren die Schule abgebrochen und seither in Restaurants gearbeitet hat. Während der Waffenruhe Anfang des Jahres, bei der täglich rund 600 Lastwagen mit Hilfsgütern nach Gaza kamen, habe das gut funktioniert. Seit dem Beginn der Blockade sei es schwer geworden, noch Zutaten zu finden.

Aref hat zu Kriegsbeginn seine Frau und die zwei Kinder aus Gaza herausbringen können. Nach der Flucht in den Süden hielt er sich zunächst in Rafah, dann in Nuseirat in Zentral-Gaza mit Restaurantjobs über Wasser. Er deutet auf seinen Pizzaofen, den er aus Material aus den zerstörten Häusern habe bauen lassen. «Wir können hier in Gaza aus nichts eine Menge machen. Aber wir sind erschöpft.» Erneut vertrieben zu werden, mache ihm Angst, es nicht noch einmal auf die Beine zu schaffen.