Proteste auf Korsika: An den Wänden prangen die Konturen der Ikone

Nr. 13 –

Seit dem Tod des Separatisten Yvan Colonna kommt Korsika nicht mehr zur Ruhe. Nun zeigt sich die französische Regierung erstmals bereit, über die Autonomie zu verhandeln. Was bewegt die Menschen auf der Insel?

Fern von Korsika im Gefängnis umgebracht: An der Beerdigung des Unabhängigkeitsaktivisten Yvan Colonna am 25. Mai in Cargèse.

Ein Meer aus Flaggen flattert unter den Olivenbäumen vor der katholischen Kirche. Es ist der 25. März, der Tag, an dem der Unabhängigkeitsaktivist Yvan Colonna bestattet wird. Tausende sind in dessen Heimatdorf Cargèse im Westen der Insel gereist. Unter die korsischen Fahnen mischen sich auch welche aus Sardinien, Katalonien und dem Baskenland. Die Ermordung des Separatisten beschäftigt viele Menschen in europäischen Regionen, die sich vom Staat unterdrückt fühlen.

1998 wurde der französische Präfekt Claude Érignac in der korsischen Hauptstadt Ajaccio umgebracht. Sein Mörder schoss ihm von hinten in den Nacken. Yvan Colonna wurde 2011 der Tat schuldig gesprochen und zu 22 Jahren Haft verurteilt. Da er selbst jedoch immer auf seiner Unschuld bestand, betrachten ihn auf Korsika viele als politischen Gefangenen.

Der überwachteste Mann Frankreichs

Der Unabhängigkeitsaktivist kam in ein Hochsicherheitsgefängnis auf dem französischen Festland, wo Anfang März ein ehemaliger Dschihadist versuchte, ihn umzubringen. Drei Wochen später erlag Colonna den Verletzungen. «Wie konnte der überwachteste Mann Frankreichs während acht Minuten erwürgt werden, ohne dass Sicherheitsbeamte etwas bemerkten?», echauffiert sich eine Anwohnerin in Cargèse. Ihr Freund fügt hinzu: «Nennen Sie mich ruhig einen Verschwörungstheoretiker. Aber erklären Sie mir doch bitte, von wo dieser Islamist auf einmal aufgetaucht sein soll?»

Mit drei weiteren Männern trägt er ein zwei Meter hohes Bild von Yvan Colonna durch die Menge. Unter dem Foto steht «Statu Francese Assasinu», auf Deutsch: Der französische Staat ist ein Mörder.

Nachdem die Leiche gesegnet worden ist, tragen Verwandte den Sarg in Richtung Meer. Kurz vor dem Familiengrab macht der Trauerzug halt. Nur Angehörige dürfen weiter. Neugierige Eindringlinge werden säuberlich aussortiert. Ein Mann packt mich am Arm: «Sie sind Journalist, nicht wahr?»

«Hier in Cargèse kennt sich jeder. Da fällst du sofort auf», erklärt Valérie Boizard. Sie selbst kannte Yvan Colonna seit der Kindheit. Ihr Schwager sei dessen bester Freund gewesen. Beide waren Rettungsschwimmer und leiteten den lokalen Boxverein, wo heute noch viele Jugendliche politisiert werden. Boizard zeigt ihre Tattoos: zweimal die Insel Korsika, eine auf dem Unterarm, eine auf der linken Brust. Beide sind durch die Jahre, durch Salzwasser und Mittelmeersonne verblasst. «Ich hoffe, dass er nicht umsonst gestorben ist», sagt sie.

Colonnas Tod hat die Beziehung zwischen der Insel und dem Festland drastisch verschlechtert. Demonstrant:innen werfen Steine und Molotowcocktails, Polizist:innen antworten mit Gummigeschossen und Tränengas. Anfang des Monats wurde beim Gerichtshof in Ajaccio ein Brand gelegt, letzte Woche eine Polizeikaserne angegriffen. Vor allem Jugendliche und Student:innen romantisieren Yvan Colonna zu einer Ikone des korsischen Unabhängigkeitskampfs. Die wenigsten sind jedoch alt genug, um sich an die Ermordung von Claude Érignac 1998 überhaupt erinnern zu können.

Die Università di Corsica liegt in Corte, der ehemaligen Hauptstadt der Insel. Mit den rund 4000 Studierenden findet fast das gesamte Student:innenleben der Insel in dem 7000-Seelen-Ort statt, von Bergen umzingelt. Eine der Aktivist:innen ist Anne-Laure Marietti. Die Jurastudentin erscheint zum Treffpunkt leicht verspätet. Es ist 14 Uhr, die Masterstudentin hat kaum geschlafen, bis zum Morgengrauen sass sie an einem Beitrag für die korsische Aktivist:innenzeitschrift «Robba». Marietti bestellt Kaffee und Karottensaft, raucht schnell eine Zigarette, und zündet direkt eine zweite an, bevor sie auf die Fragen antworten will.

«Ich betrachte mich in erster Linie als ‹Mediterranin›», erzählt die 27-Jährige. Nachdem sie einen Teil ihres Jurastudiums in Paris absolviert hatte, kehrte sie an ihren Geburtsort zurück. «In Korsika haben wir eine besondere Beziehung zur Justiz oder, besser gesagt, zur ‹injustice›, zur Ungerechtigkeit», begründet sie ihre Studienwahl.

Ein Beispiel hierfür ist der Präsident der Inselregion, Gilles Simeoni: Vor seiner Politikkarriere hat er als Anwalt den Aktivisten Yvan Colonna verteidigt. In Korsika ist er daher weitum beliebt, zumindest wurde er in der Regionalwahl letztes Jahr wiedergewählt. Zwei Drittel der Wähler:innen haben dabei entweder für eine Autonomie- oder für eine Unabhängigkeitspartei gestimmt.

Die kriselnde Beziehung zwischen Korsika und dem Festland reicht weit zurück – seit der französische König Ludwig der XV. die Insel 1769 der damaligen Republik Genua abkaufte. Die letzten blutigen Unabhängigkeitskämpfe wurden in den siebziger und achtziger Jahren von der Bewegung Frontu di Liberazione Naziunalista Corsu (FLNC) geführt, der Nationalen Befreiungsfront Korsikas. Rund siebzig Menschen sind bei ihren Attentaten insgesamt ums Leben gekommen – Polizist:innen, Politiker:innen, aber auch rivalisierende Aktivist:innen.

Inzwischen versucht die Insel, die Selbstbestimmung diplomatisch zu erlangen. In den Regionalwahlen 2015 gewann Gilles Simeonis Partei Femu a Corsica (Lasst uns Korsika machen), wodurch die Autonomist:innen zum ersten Mal in die lokale Regierung einzogen.

Doch die Verhandlungen mit dem «Kontinent» hätten seitdem wenig gebracht, erzählt Aktivistin Marietti. Nach den «saftigen Demonstrationen» hat nun aber der französische Minister Gérald Darmanin in einem Interview mit der Tageszeitung «Corse Matin» versprochen, man werde mit der lokalen Regierung «bis zur Autonomie» verhandeln – eine Premiere in der Geschichte Frankreichs.

«Français de merde»

«Der Staat vermittelt uns dadurch eine falsche Botschaft», sagt indes Marietti. «Als könnten wir mit einer Woche Gewalt mehr erreichen als mit fünf Jahren Politik.» Dabei seien die Forderungen der Demonstrant:innen recht klar: «Die französische Regierung weiss genau, was mit ‹Autonomie› gemeint ist. So wie die Balearischen Inseln von Spanien autonom sind, wie Madeira von Portugal, Sardinien und Sizilien von Italien, wollen wir auch von Frankreich unsere Autonomie anerkannt bekommen.» Den Aktivist:innen geht es selten um die komplette Unabhängigkeit von Frankreich, sondern vielmehr um eine eigene Gesetzgebungskompetenz.

Der aktuelle Konflikt habe jedoch auch einen identitären Aspekt, erzählt Mariettis Kollege Francescu Guerrini, der später dazugestossen ist. Der Geschichtsstudent ist der Sohn eines Widerstandsaktivisten. Sein Vater Elice Guerrini hat in den siebziger Jahren mit Edmond Simeoni, dem Vater des aktuellen korsischen Präsidenten, für die Autonomie gekämpft. 1973 endete dieser Kampf mit einem Blutbad vor einem Weinkeller, bei dem zwei Gendarmen ums Leben kamen. Guerrinis Vater sass daraufhin sechs Monate in Untersuchungshaft, wurde aber aufgrund fehlender Beweise freigelassen.

Guerrini findet, er gehe für dieselben Gründe auf die Strasse wie damals sein Vater: die Anerkennung eines korsischen Volkes und von dessen Sprache. «Ausserdem soll die Insel endlich wieder von Politikern regiert werden, die hier leben», so der 25-Jährige.

Die beiden streifen durch die Gassen der kleinen Universitätsstadt, halten vor jeder Kneipe kurz an und begrüssen andere Student:innen in lässigem Korsisch – bei komplizierteren Gesprächen wird jedoch wieder auf Französisch gewechselt. In Corte findet man an jedem Strassenwinkel frankreichfeindliche Graffiti. An einem Haus steht: «Hunde und Franzosen müssen draussen bleiben», auf Regenrinnen kleben Sticker mit der Aufschrift «Français de merde», und an unzähligen Strassenecken finden sich die schwarzen Konturen einer Ikone: Yvan Colonna.

Die Frustration der Jugend

Die grosse Demonstrationsbereitschaft innerhalb der korsischen Jugend erkläre sich unter anderem aus der politischen Frustration, sagt der Politologe André Fazi. Der Professor leitet den Masterstudiengang von Anne-Laure Marietti. Ab und zu liest er einen ihrer Artikel in der Zeitschrift «Robba». «Anders als ihre Eltern hat diese Generation den Nationalismus nur in der Regierung erlebt, und diese war letzten Endes nicht sonderlich erfolgreich damit.»

Hinzu kommt eine wirtschaftliche Frustration: Die korsische Jugend ist im Durchschnitt weniger privilegiert, als es ihre Mitbürger:innen auf dem Kontinent sind, die Jugendarbeitslosigkeit auf der Insel liegt bei über 21 Prozent.

Politisch lässt sich die Bewegung schlecht zuordnen. Anne-Laure Marietti und ihre Freund:innen wählen überwiegend links bis linksradikal. Die Mehrheit der Kors:innen wählt jedoch traditionell eher rechts. Bei der Präsidentschaftswahl 2017 konnte die rechtsnationale Marine Le Pen mit 28 Prozent von allen Kandidat:innen die meisten Stimmen sammeln. Vieles deutet darauf hin, dass am 10. April Éric Zemmour stärkster Kandidat auf der Insel werden könnte.

Doch diese Frage interessiert André Fazi wenig: Mit rund 350 000 Einwohner:innen macht Korsika weniger als ein halbes Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs aus und hat dadurch kaum Einfluss auf das Wahlergebnis. Viel wahrscheinlicher wäre demnach ein neuer Rekordwert in der Wahlenthaltung.