Wahltag in Frankreich: Die Angst vor Le Pen war grösser
Emmanuel Macron bleibt französischer Präsident – auch dank der widerwilligen Stimmen vieler Linker, die er in den letzten fünf Jahren gegen sich aufgebracht hat. Zu Besuch bei Autonomen und Aktivist:innen in der Hauptstadt.
Er macht es seinen Wähler:innen nicht leicht, ihm zuzujubeln. Emmanuel Macron hat angekündigt, am Sonntagabend auf dem Champs de Mars eine Rede zu halten. Aber der riesige Park am Fuss des Eiffelturms ist komplett abgeriegelt, bewacht von der Gendarmerie – mit Waffen im Anschlag.
Ein einziger Durchgang führt auf den Platz; hektisch gehen Leute rund um den Park herum, um ihn zu finden. Eine Umrundung dauert mehr als dreissig Minuten. Dabei drängt die Zeit: Um 20 Uhr werden die ersten Hochrechnungen der Wahl veröffentlicht. Die Anspannung ist spürbar: Sollte die rechtsextreme Marine Le Pen die Wahl gewinnen, wird dieser Moment historisch.
Kommen bald die Schlägertrupps?
Einige Stunden zuvor versammeln sich im neunten Arrondissement rund fünfzig Aktivist:innen zu einem ausufernden Plenum. Sie nennen sich «Collectif La Chapelle debout». Vor zwei Wochen hat das Kollektiv das Gebäude besetzt; in den oberen vier Stockwerken des ehemaligen Bürogebäudes stehen Schlafplätze zur Verfügung, im Erdgeschoss gibt es gratis Essen und Beratung. Das Angebot sei wichtig, sagt einer der Aktivist:innen. In Paris leben Hunderte Sans-Papiers auf der Strasse, der französische Asylprozess ist langwierig und schwer zugänglich.
«Ich kenne Leute, die seit zehn Jahren hier sind und immer noch nicht arbeiten dürfen», erzählt der Aktivist, der seinen Namen nicht nennen möchte. Macron hat wenig dafür getan, um hier auf Zuneigung zu stossen. Zwar hatte er einst angekündigt, dass in Frankreich niemand mehr auf der Strasse leben müsse. Seit seinem Amtsantritt habe sich die Situation für illegalisierte Personen aber verschärft, sagt der Aktivist. So sei die Polizei in den letzten Jahren entsprechend Macrons Ankündigung gegen informelle Camps an den Rändern von Paris vorgegangen. «Zum Teil hat die Polizei nachts Zeltsiedlungen von Sans-Papiers mit Tränengas angegriffen», erzählt er. Weniger Leute würden deshalb nicht auf der Strasse wohnen – «sie sind bloss weniger sichtbar».
Auf die Wahlen angesprochen, schüttelt er den Kopf. Er selbst darf nicht wählen, und klar, Le Pen sei eine Rassistin, «aber wir leben sowieso schon in einem rassistischen Land», sagt er. Macron habe zudem selbst wesentlichen Anteil am Vormarsch der extremen Rechten, sind die Aktivist:innen überzeugt. Etwa, indem er sich während des Wahlkampfs am rassistischen Diskurs rund um die hochgekochte «Islamfrage» beteiligt und diesen damit weiter normalisiert habe. «Weder Macron noch Le Pen!», schliesst deshalb die Rede, die ein Aktivist im Plenum probeweise vorliest. Sie soll am Abend an einer Demonstration vorgetragen werden, zu der linke Kreise aufrufen.
Das Collectif La Chapelle debout will hingehen – mindestens einige der Aktivist:innen. Derzeit müsse die Besetzung jederzeit bewacht werden, sagt ein Student und Aktivist, der sich als Martin vorstellt. «Es gehen Gerüchte um, wonach sich militante faschistische Gruppierungen darauf vorbereiten, im Fall von Le Pens Sieg heute Abend linke Projekte und migrantische Einrichtungen anzugreifen.» Wie glaubwürdig das sei, wisse er nicht.
Wahrscheinlicher ist wohl die Konfrontation mit der Polizei: Martin geht davon aus, dass die Behörden die Wahlen abgewartet haben – und nächste Woche das Haus räumen werden. «Die gefährlichste rechtsextreme Gruppierung in Paris ist immer noch die Polizei», sagt Martin. Im Vorfeld der Wahlen hat die französische Polizeigewerkschaft Alliance mit Kandidat:innen Hearings abgehalten, neben Marine Le Pen auch mit Éric Zemmour, der Le Pen sogar noch rechts zu überholen versuchte. Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon hingegen wurde von Alliance gar nicht erst eingeladen.
Kurzer Jubel, dann wirds still
Auch Martin weiss, dass die Repression, die das Projekt und seine Aktivist:innen erfahren, nicht primär in der Verantwortung Macrons liegt. Aber er trägt diese Politik mit. 2021 erliess seine Regierung ein neues Sicherheitsgesetz, das die Kompetenzen der Polizei deutlich ausweitete. Erst kürzlich wurde eine antifaschistische Gruppierung in Lyon verboten. Bei den Aktivist:innen hier ist Macron nicht nur wegen seines politischen Programms unbeliebt – der Hass ist fast schon persönlich und, so scheint es, gegenseitig. Macrons Law-and-Order-Kurs richtet sich direkt gegen linke Projekte wie dieses.
Nachmittags um vier ist die Stimmung bereits ausgelassen im autonomen Zentrum Aeri. Die Besucher:innen trinken Dosenbier im Schatten eines hohen Wohnblocks. Das Aeri liegt in Montreuil, einem Vorort im Osten von Paris. Regiert wird Montreuil von einem Bürgermeister der Kommunistischen Partei. Im ersten Wahlgang holte Jean-Luc Mélenchon hier 55 Prozent der Stimmen.
Im grossen Saal des Aeri wird heute der Film «This Is England» gezeigt; er handelt vom Vormarsch der Neonazis innerhalb der englischen Skinheadszene während der Thatcher-Jahre. Der volltätowierte Punk am Eingang, der Dennis genannt werden möchte, sagt mit einem schallenden Lachen, er halte den Film für passend. Dennis wohnt nicht in Montreuil, das könne er sich nicht leisten. Wie überall in Paris schreite auch hier die Gentrifizierung schnell voran: «Auch die Besetzungen, und davon gibt es hier viele, stehen fast alle unter Druck», sagt er. Seit Beginn der Proteste der Gilets jaunes 2018 sei die Gangart der Polizei noch härter geworden. Wählen gegangen sei er nicht, «das bringt doch nichts», sagt Dennis. Ob er nicht Angst vor einem Wahlsieg Le Pens habe? «Die wird schon nicht gewinnen», antwortet er.
Als um 20 Uhr tatsächlich Macrons Wahlsieg verkündet wird, filmen auf dem Champs de Mars Hunderte Journalist:innen die wehenden Europa- und Frankreichfähnchen, die am Eingang verteilt wurden. Aber richtig ausgelassen ist die Stimmung nicht. Der Jubel hält nur kurz an, dann wird es recht still – bis zur allgemeinen Erleichterung ein DJ den Partykracher «One More Time» von Daft Punk abzuspielen beginnt.
Etwas abseits steht die 43-jährige Adeline mit ihren drei Töchtern und schwingt ebenfalls eine Europafahne. Sie ist aus der Banlieue angereist – und erleichtert, dass Macron gewonnen hat. «Wegen seiner Europapolitik, weil er sich für Frankreich einsetzt», sagt Adeline. Sie habe ihm schon im ersten Wahlgang und auch bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren ihre Stimme gegeben. Früher habe sie linke Kandidat:innen gewählt. Auch für die linke Kritik an Macrons Politik äussert sie Verständnis. «Aber man muss auch sehen, dass er wegen der anhaltenden Krisen bisher kaum Möglichkeiten hatte, sein Programm umzusetzen», findet Adeline. «Er verdient noch einmal eine Chance.»
Kein Durchkommen
Das blaue Blinken rund um die Place de la République ist schon von weitem zu sehen. Jede Zugangsstrasse wird von je rund fünfzehn Kastenwägen der Polizei blockiert. Sie beobachtet die Kundgebung, die sich in der Mitte des Platzes gebildet hat. Nur rund tausend Personen nehmen daran teil. «Letztlich sind im Moment die meisten Linken wohl doch vor allem erleichtert, dass Le Pen nicht gewählt wurde», sagt einer der Anwesenden.
41,5 Prozent hat eine rechtsextreme Kandidatin erzielt – so viel wie noch nie. Nur dank der zähneknirschend abgegebenen Stimmen der Linken konnte ihr Sieg abgewendet werden. In Montreuil, wo Macron im ersten Wahlgang noch weniger als 20 Prozent der Stimmen erzielt hatte, erhält er an diesem Sonntag 83 Prozent. Macron kündigt in seiner Siegesrede an, auch diejenigen berücksichtigen zu wollen, die ihn nur gewählt haben, um die extreme Rechte zu verhindern. Dazu zählt auch Martin vom Collectif La Chapelle debout. Auch er sei wählen gegangen, hat er am Nachmittag gesagt, so wie fast alle Aktivist:innen des Projekts, die dazu berechtigt sind. Die Angst vor einem weiteren Erstarken der extremen Rechten war schliesslich zu gross, um es nicht zu tun.
Als einige Demonstrant:innen den Schriftzug «Antifa Paris» auf die riesige Statue in der Mitte der Place de la République sprayen, hofft dabei wohl keine:r von ihnen auf Unterstützung von Macron. «La vraie démocratie, elle est ici», skandiert die Menge. Irgendwann versucht sie, einen Demonstrationszug zu formen. Als sie den Platz verlassen will und sich in Richtung einer Strassenblockade bewegt, antwortet die Polizei umgehend mit Tränengas und Gummischrot. Kein Durchkommen: Die Demonstrant:innen weichen zurück. Die Mauer hält.