Anti-Antirassismus: Den «Erwählten» eins auf die Nase hauen
Der Schwarze Intellektuelle John McWhorter unterstellt der antirassistischen Linken, sie habe aus ihrem Kampf eine «Religion» gemacht und verhalte sich selber «rassistisch». Das ist nicht nur überzogen, sondern gefährlich.
«Über dieses Buch spricht ganz Amerika», heisst es auf den einschlägigen Websites des Buchhandels – und das ganze deutschsprachige Feuilleton, möchte man hinzufügen. Der Schwarze Sprachwissenschaftler John McWhorter formuliert in «Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet» eine steile These: Die antirassistische Bewegung falle mit ihren identitätspolitischen Positionen hinter die Prinzipien der Aufklärung zurück und sei zu einer missionarisch-fundamentalistischen Sekte geworden. Bloss, was soll man von einem Autor halten, der sich dabei nicht minder eifernd an sein Publikum wendet? «Machen Sie sich nichts vor: Diese Leute haben es auf Ihre Kinder abgesehen», schreibt er schrill.
Der englischsprachige Buchtitel «Woke Racism» macht klar, wo McWhorter politisch steht und wohin sein Eifer zielt, ist «woke» doch ebenso ein rechter Kampfbegriff zur Diskreditierung der Linken wie «Cancel Culture», um die es ihm im Kern geht. So scharf er verbal gegen links schiesst, so wenig überzeugen indes die Argumente, die er im Köcher führt. Zum einen zeugen sie von einer höchst selektiven Wahrnehmung der Geschichte. Zum anderen lassen sich die Argumente, mit denen er die aktuelle antirassistische Bewegung zur extremistischen Bedrohung hochstilisiert, bei näherer Betrachtung auch gegen ihn selber wenden. Er schiesst, um im Bild zu bleiben, also nicht nur weit übers Ziel hinaus, sondern mitunter auch sich selbst ins Knie.
Ein Nazivergleich – im Ernst?
Das beginnt beim überzogenen Label der «Religion» respektive dem Begriff der «Erwählten», der sich auf Schwarze wie Weisse bezieht. Exakt drei «Propheten» identifiziert er, mitsamt ihren zentralen Schriften, dem «Testament in drei Bänden»: Ta-Nehisi Coates’ «Zwischen mir und der Welt», Ibram X. Kendis «How to Be an Antiracist» und Robin DiAngelos «Wir müssen über Rassismus sprechen». Das mutet in seinem Reduktionismus eigentlich wie ein Jux an. Zumal er gleich zweimal im Buch den «Katechismus», quasi die zehn Gebote der «Gläubigen», in einer Weise auflistet, der es nur darum geht, sie insgesamt der Lächerlichkeit preiszugeben: Es handelt sich um eine willkürliche Ansammlung überspitzt formulierter Aussagen wie «Wenn Schwarze Menschen sagen, Sie hätten sie beleidigt, entschuldigen Sie sich mit tiefer Aufrichtigkeit und viel schlechtem Gewissen», denen er scheinbar widersprechende Aussagen gegenüberstellt («Erwarten Sie nicht, dass Ihnen vergeben wird»).
Aber McWhorter meint es todernst: Der «Mob» der «Erwählten» verfolge eine «kulturelle Umprogrammierung», verbreite eine «ideologische Schreckensherrschaft», «schieren Terror» wie «in Stalins Zeiten», gehe es ihm doch darum, die «Meinungsvielfalt beim Thema Race auszurotten», womit er «gruselig nah an Hitlers Rassenlehre» herankomme.
Wer so den verbalen Zweihänder schwingt, sollte auch Fakten und eine überzeugende Beweisführung liefern. Kaum eine Handvoll Beispiele «Gecancelter» genügt da nicht. Tatsächlich kann darüber diskutiert werden, ob es nicht übertrieben war, diese Personen zu entlassen – den Kurator des Museum of Modern Art (Moma) in San Francisco etwa, der sagte, er werde auch weiterhin Werke von Weissen ausstellen, weil es umgekehrt diskriminierend wäre, dies nicht zu tun. Dass sich diese Personen teilweise extrem ungeschickt verhalten oder geäussert hatten, steht hingegen ausser Frage. Eine weisse Journalistin erschien mit schwarz angemaltem Gesicht an einer Party. Und ein katholischer Seelsorger am MIT äusserte im selben Rundmail, in dem er den Mord an George Floyd verurteilte, Verständnis für Polizisten, die es eben dauernd mit gefährlichen, schlechten Menschen zu tun hätten, entsprechend sei Rassismus auch nicht das Hauptproblem der Polizei.
Diese Fälle spielen im Buch aber nur eine marginale Rolle, letztlich interessieren sie McWhorter wohl auch gar nicht. Ihm geht es um die Verdammung dieser «Religion» und ihrer Anhänger:innen: «Wir sollten anfangen, den Erwählten auf die Nase zu hauen», gibt er seinen Leser:innen zum Schluss mit auf den Weg – was er natürlich im übertragenen Sinn und nicht als Aufruf zur Gewalt meine.
Die böse Critical Race Theory
Weshalb aber bleibt diese behauptete «Religion» inhaltlich so seltsam vage? Und warum genau soll sie «rassistisch» sein? Zumindest zwischen den Zeilen wird deutlich, dass dem Autor die Critical Race Theory ein Dorn im Auge ist. Etwa wenn er davon spricht, dass es den «Erwählten» in ihren «Predigten» um den «Kampf gegen die Herrschaftsverhältnisse und ihre diskriminierenden Effekte» gehe, oder dass sich darin «alles nur um Hierarchien, Macht und deren Missbrauch» drehe – und natürlich um «White Privilege», die «Erbsünde» der Weissen. An diesem Punkt setzt er an, um ihren antirassistischen Kampf ins Gegenteil zu verkehren: Auch wenn die «Erwählten» betonten, dass Rassismus fest mit gesellschaftlichen Strukturen verwoben sei, würden sie ihn vermenschlichen, also dem komplexen, abstrakten systemischen Rassismus ein konkretes Gesicht geben und damit auf die Formel «Weisse sind Teufel» reduzieren.
Nur erweckt der Sprachwissenschaftler nicht den Eindruck, als hätte er sich wirklich mit der Critical Race Theory auseinandergesetzt, mit den zentralen Werken des Politphilosophen Charles W. Mills oder der Juristinnen Cheryl Harris und Kimberlé Crenshaw etwa. Diese zeigten in den neunziger Jahren so detailreich wie überzeugend auf, wie Race als Konstrukt aus den parallelen Prozessen der Aufklärung und der westlichen Expansion und dem mit ihr verbundenen Kolonialismus hervorging. Und wie dies dazu führte, dass die scheinbar universellen Ideale der Aufklärung Weissen vorbehalten blieben, wie sich das auch rechtlich in die gesellschaftlichen Strukturen einschrieb und sich bis heute in der Form von institutionellem Rassismus reproduziert.
McWhorter scheint die Critical Race Theory vielmehr aus ideologischen Gründen abzulehnen, wenn er die «Erwählten» als Opfer der «charismatischen, ultralinken Schwarzen Fraktion» bezeichnet, deren historische Wurzeln er Mitte der sechziger Jahre in der Radikalisierung der Schwarzen Bewegung sieht. Bloss, wie kommt er dazu, die politisch radikale «Black Power»-Bewegung auf eine «Kulturlinke» zu reduzieren, für die der Slogan ein Synonym für «Black is beautiful» gewesen sei, was der Autor mit einem «Status des edlen Opfers» gleichsetzt, in dem sich die «Erwählten» heute geradezu suhlen würden? Wo sich gerade die Black-Lives-Matter-Bewegung doch explizit auf die radikalste Black-Power-Organisation, die Black Panther Party, als Vorbild bezieht. Noch absurder ist die Behauptung, die weisse Linke von damals sei schuld daran, dass heute so viele Schwarze von der Sozialhilfe lebten «und es für normal hielten, ihren Lebensunterhalt nicht durch Arbeit zu verdienen».
Aus den Augen, aus dem Sinn?
Überhaupt betrachtet McWhorter die Critical Race Theory heute als obsolet, von strukturellem Rassismus will er nichts wissen und disqualifiziert Aussagen der antirassistischen Linken als unlogisch: «Wenn Weisse aus Schwarzen Wohnvierteln wegziehen, ist das ‹White Flight›, die weisse Fluchtbewegung» – «Wenn Weisse in Schwarze Wohnviertel ziehen, ist das Gentrifizierung, auch wenn die Schwarzen Bewohnerinnen und Bewohner viel Geld für ihre Häuser und Wohnungen bekommen.» Als ob Schwarze diese Häuser und Wohnungen besitzen würden. Tatsache ist, dass der Anteil Schwarzer Eigentümer:innen in den vergangenen zehn Jahren gesunken ist, während er für alle anderen Gruppen anstieg, und mittlerweile um fast dreissig Prozent unter jenem von Weissen liegt. Die US-Generalsekretärin für Wohn- und Stadtentwicklung sprach gegenüber CNN Ende Februar explizit von einem wachsenden «race-basierten Wohneigentumsgraben».
Ironischerweise greift McWhorter die grassierende Obdachlosigkeit urbaner Unterschichten an einer Stelle sogar auf – aber nur, um es der antirassistischen Linken um die Ohren zu hauen: weil sie sich darauf konzentriere, Einzelpersonen zu diskreditieren, statt sich für die Obdachlosen im angrenzenden Quartier einzusetzen. Zwar hat das eine mit dem anderen direkt nichts zu tun. Trotzdem legt McWhorter hier den Finger auf einen wunden Punkt vieler antirassistischer Aktivist:innen, die sich tatsächlich allzu häufig in symbolischen Auseinandersetzungen aufreiben – trotz aller Reminiszenzen an die Black Panthers. Wo bleibt ihr klassenkämpferischer Ansatz, ihr konkretes Engagement für die Verbesserung der Lebensumstände Schwarzer Unterschichten, wie es die Black Panthers mit ihren Sozialprogrammen vorgelebt hatten?
Auf immerhin sechs Seiten springt der Autor überraschend in die linke Bresche und schlägt drei politische Massnahmen vor, mit denen sich die Situation der Schwarzen Ghettobevölkerung effektiv verbessern liesse: Drogen legalisieren, die Kinder richtig Lesen lehren, damit sie in der Schule überhaupt dranbleiben, und für eine gute Berufsausbildung als Alternative zum Hochschulstudium sorgen – auf dass «klassische Arbeiterjobs wieder stärker wertgeschätzt werden».
Leider springt er gleich darauf wieder zurück in den Kampfmodus gegen die «Erwählten» und behauptet, ihre Rassismusvorwürfe seien oft «fake» und man solle sie endlich ignorieren. Damit wird McWhorter endgültig zum Steigbügelhalter der Rechten, die in mittlerweile fünfzehn US-Staaten an öffentlichen Schulen jeglichen Unterricht verboten haben, der sich mit Critical Race Theory und strukturellem Rassismus auseinandersetzt.
John McWhorter: Die Erwählten. Wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet. Aus dem amerikanischen Englisch von Kirsten Riesselmann. Hoffmann und Campe. Hamburg 2022. 256 Seiten. 37 Franken