Massaker von Butscha: Bilder und Unvorstellbares
Butscha – diesen Namen wird so rasch niemand mehr vergessen. Die Bilder der Leichen in den Strassen des Kiewer Vororts, die am Wochenende um die Welt gingen, brennen sich ins Gedächtnis ein und lassen einen fassungslos zurück. «Fotos sind ein Mittel, um Dinge real werden zu lassen, die die Privilegierten und Sicheren lieber ignorieren würden», schreibt die Essayistin Susan Sontag in ihrer Reflexion über das «Leiden anderer», in der sie Darstellungen des Krieges und die Reaktionen darauf analysiert.
Bilder sind immer nur ein Ausschnitt der Realität, sie erzählen bloss einen Teil der Geschichte. Zu einem schärferen Blick trägt aber ein neuer Bericht von Human Rights Watch bei. Die Organisation listet darin brutale Vergehen im ganzen Land auf; Zeug:innen und Überlebende berichten von Vergewaltigungen und Folter, Hinrichtungen und Plünderungen.
Den Ausschnitt der Geschichte vergrössern auch die Reporter:innen, die sich in den von den ukrainischen Streitkräften zurückeroberten Gebieten umsahen. Eine unabhängige Untersuchung können sie nicht ersetzen, doch das Bild, das die Medien zeichnen, gibt deutliche Hinweise auf Kriegsverbrechen, begangen von russischen Truppen. Die «New York Times» etwa veröffentlichte Satellitenbilder, die Leichen auf einer Strasse in Butscha zeigen – Wochen bevor die Besatzer die Stadt verliessen.
Moskau hingegen behauptet, die Bilder seien «Fälschungen», von Kiew für westliche Medien inszeniert. Das kann niemanden überraschen – ähnlich argumentierte der Kreml schon früher. Ob nach dem Abschuss des Passagierflugzeugs MH17, bei der Annexion der Krim oder den Anschlägen auf Oppositionelle, die Strategie ist immer dieselbe: Zweifel säen und so viele «Wahrheiten» verbreiten, bis wahr und falsch nicht mehr zu unterscheiden sind.
Auch historisch gibt es für diese Taktik Präzedenzfälle, wie Susan Sontag in ihrem Essay schreibt. So habe General Francos Propagandachef einst behauptet, die Basken hätten die Stadt Guernica selbst zerstört, um «im Ausland Empörung auszulösen». Und viele Serb:innen hätten geglaubt, die Massaker während der Belagerung von Sarajevo – deren Beginn sich gerade zum 30. Mal jährt – seien das Werk der Bosniaken gewesen, um «grausame Bilder für ausländische Kameras» und damit mehr internationale Unterstützung zu generieren.
Die Gräueltaten von Butscha lassen sich indes auch als Resultat des Narrativs lesen, mit dem das russische Regime den Krieg rechtfertigt. Zuerst habe man das Nachbarland «von dessen Naziregime befreien» wollen, schreibt der Moskauer Soziologe Greg Yudin – bis man gemerkt habe, dass die Ukrainer:innen sich mutig verteidigten. «Daraus wird nun der Schluss gezogen, dass die Ukrainer offenbar schwer vom Nazismus infiziert sind. Also heisst Befreiung jetzt Säuberung.» Die Analyse stützt ein Beitrag, den eine grosse russische Nachrichtenagentur dieser Tage publizierte. Gefordert wird darin die Vernichtung der Ukraine als Staat – und all jener, die sich an dessen Verteidigung beteiligen: ein Zeugnis der Entmenschlichung, das das Schlimmste befürchten lässt. Zufällig dürfte die Publikation des Textes nicht gewesen sein.
Zu glauben, was in den Kiewer Vororten passierte, würde sich anderswo nicht wiederholen, wäre naiv. Schliesslich hat sich die russische Armee wohl nur zur Vorbereitung einer neuen Grossoffensive im Süden und Osten aus dem Gebiet zurückgezogen. Ob ein Embargo auf Rohstoffe aus Russland – sollten sich die EU-Länder und auch die Schweiz je darauf einigen – das Morden beenden kann, bleibt offen.
«Die grausamen Bilder sollen uns verfolgen», fordert Susan Sontag. Im Rückblick kann Butscha dereinst der Zeitpunkt gewesen sein, in dem auf die russische Kriegsmaschinerie eine Antwort gefunden wurde. Es kann aber auch ein Verbrechen bleiben, auf das noch viele weitere folgen. Gerade das macht die jetzige Situation so unerträglich. Und die Aufarbeitung durch ein internationales Tribunal umso wichtiger.