Jürgen Habermas: Ein Werk am Ende

Nr. 15 –

Die internationale Reputation von Jürgen Habermas als kritischem Denker steht in eklatantem Missverhältnis zu den unbegründeten metaphysischen Grundannahmen seiner Philosophie. Eine Revision.

Jürgen Habermas’ zuletzt veröffentlichtes Werk ist ein Buch über Glauben und Wissen, Vernunft und Freiheit, Erkenntnis, Religion und Zivilisation, dem im Verlauf seiner 1800 Seiten zunehmend kein Problem mehr innewohnt. Es geht alles fein säuberlich auf, trotz der Beschwörung so vieler Probleme. Das ist aber auch kein Wunder, da Habermas alles meidet, was solches zu einfache Aufgehen bedrohen, erschweren, verunmöglichen könnte. Es geht alles auf, weil nichts stört. Und es stört nichts, weil Habermas immer schon alles, was stören könnte, weggelassen hat.

Nach der Lektüre von «Auch eine Geschichte der Philosophie» stellen sich einige Fragen an den Autor, seine Rolle, sein Selbstverständnis. Ist Jürgen Habermas Philosoph, Soziologe, das eine durch das andere? Oder Ideenhistoriker, Theoretiker der Dispositive zivilisatorischer Macht? Selektiver Kommentator der Philosophiegeschichte? Ein Zivilisationstheoretiker wie Lewis Mumford?

Ohne Zweifel ist Habermas seit Jahrzehnten – neben seinem Beruf als Hochschulprofessor in Philosophie – ein lebhaft streitender Publizist, nicht mehr als Linker, wohl aber als radikaler Liberaler, Verfechter des Gedankens einer unbeschränkten Republik, der Debatten, die sich um die öffentlich bedeutenden Probleme drehen – Biotechnik, Gesundheitsschutz, Antikriegsbewegung, Auf- und Abrüstung, Wiederbewaffnung, Europapolitik, «Verfassungspatriotismus», soziokulturelle Identität.

Vorherrschaft der Kognition

Längst ist klar, dass Habermas niemals Vertreter der Kritischen Theorie gewesen ist. Erst recht kein Vertreter des kritischen Rationalismus. Für beide Denkrichtungen gelten wissenschaftstheoretische Grundbedingungen, die er bei Bedarf ohne Bedenken und Begründung unterläuft. Wenn er zu seinen ultimativen Setzungen kommt, dann interessieren ihn solche Grundfragen nicht. Methodische Kriterien, die Inhalten und Thesen entgegenzulaufen drohen, werden dann ignoriert – meist mit Verweis auf eine Evidenz universaler Eigenschaften, die allem Sprechen per se innewohne, und zwar von Anfang an, ohne weitere Begründung.

Dann geht es ihm um das Thema, das ihn seit je vitalisiert: die in Sprache angeblich immer schon bedingungslos eingebaute universale Vernünftigkeit, die ermöglicht, dass Gesellschaft je schon als Gemeinschaft vernünftiger Subjekte angesprochen werden kann. Dass deren Identität auf vernünftiger wechselseitiger Anerkennung beruht, gilt ihm nicht nur als Regulativ, sondern auch als evidenter Ausdruck eines empirisch gelungenen Dialogs. Zu diesem Zweck setzt Habermas Denken mit Sprechen gleich. Genauer gesagt: Es bedarf ursprünglich der Kategorie des Denkens nicht, auch nicht der des Geistes oder des Bewusstseins. Sprache sei das Primäre. Sie reiche für die Grundlegung der generellen Subjekteigenschaften vollkommen aus.

Historisch bleibt Habermas Hermeneutiker, wie dies seine anhaltende lebendige Verehrung für Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Humboldt bezeugt, sowie letztlich bekennender Hegelianer: Die Ausformung eines alle wesentlichen Bereiche menschlicher Existenz betreffenden und verbindenden Denkens erweist sich für ihn immer schon als in sich gegliederte Vernünftigkeit.

Wahrhaftige Entwicklung

Seit Jahrzehnten behauptet und verteidigt Habermas die normative Instanz oder auch grundlegende Kraft einer herrschaftsfreien, nicht verzerrten Sprache. Das ist bestenfalls naiv, eigentlich aber auch zynisch angesichts des allgegenwärtigen Gewaltpotenzials verstellender Rede. Zwar – so mag man sich vorstellen – sollte es virtuell so sein, aber faktisch ist es eben nicht so: Sprache ist, wie seit Platon in der Philosophiegeschichte immer wieder erörtert, auch ein Herrschaftsinstrument. Reden ist immer auch gewaltbestimmt, verführerisch, unredlich oder manipulativ. Und Wissenschaften arbeiten nicht rational in reiner Form. Sie bewegen sich immer auch an den Grenzen zu Betrug, Lüge, Korruption oder Machtpolitik. Reine Wissenschaft gibt es real nicht. Nur virtuell. Mithin als Illusion.

Nun ist aber das Problem, dass Habermas die Konstruktion von Wahrheitsfähigkeit durch den Prozess eines unverstellten, rationalen Forschens nicht als eine gegen-empirische Utopie kennzeichnet, sondern als wirkende positive, ja geradezu evidente Kraft. Also geht es ihm nicht um eine kontrafaktische Überschreitung oder Setzung gegen eine entstellende Realität, sondern um deren wahrhaftige Entwicklung selbst.

Habermas vollzieht eine anhaltende, in Schlaufen und Wiederholungen sich selber – nahezu animistisch – bekräftigende Reduktion aller Ausdrucksformen des Denkens und der symbolischen Formfindungen von Menschen auf den einen Faktor oder die einzige Sphäre des «kommunikativen Handelns». Denken als Bedingung oder Voraussetzung von Sprechen kommt theoretisch nicht vor, als Problem scheint das irrelevant. Habermas reduziert Denken auf Sprechen. Alle Gesellschaft sei Sprachgemeinschaft. Vergesellschaftungen durch Totemismus, Animismus, Mystik oder auch die von Claude Lévi-Strauss reichhaltig untersuchten Mythologien zieht er nicht in Betracht. Sie interessieren ihn nicht. Allen Ritualen fehle eben der Gesichtspunkt der Universalität und damit generell die rational orientierende Kraft für soziales Handeln.

Verwerfungen des Realen

2019 erschien bei Suhrkamp «Auch eine Geschichte der Philosophie». Das Alterswerk ist beeindruckend angelegt, seine Ausarbeitung erscheint aber zunehmend als problematisch, zuletzt gar als bedrückend. In vielen Wiederholungen beschwört Habermas die These von der universalen Vorherrschaft vernunftgesteuerter Sprache. Zahllose Belege aus der nahezu gebetsmühlenartigen Repetition dieser Auffassung könnte man anführen. Anstelle eines Beweises reizt Habermas eine rhetorische Figur aus, eben die der beschwörenden Überredung anstelle von Argumenten.

Ein Beispiel nur: «Die sprachlich verkörperte, in kommunikative Prozesse verflüssigte Vernunft kann verpflichtende Normen, die im Unterschied zu attraktiven Gütern nicht auf Interessen zurückgeführt werden können, nicht aus Gründen erzeugen, sondern bestenfalls im Lichte eines möglichen rational motivierten Konsenses unter Beteiligten und Betroffenen prüfen.» Nur dem Wortlaut nach und vermeintlich verfährt Habermas hier relativierend. Denn und dennoch: Die sprachliche Verkörperung von Vernunft gelte universal. Sie sei substanziell unverzichtbar, habe also als konstitutiv und nicht nur als regulativ anerkannt zu werden.

Nun mag man sich ja wünschen, was immer man will, aber jede Entwicklung eines Individuums ist auch ein Prozess der Verunstaltung, ja gar der Verstellung. Es ist schon bemerkenswert, wie wenig Habermas sich den schmerzenden Einsichten, Diagnosen, Thesen, Vorschlägen eines Theodor W. Adorno ausgesetzt hat, der ja im Übrigen auch nie sein Lehrer gewesen ist. Mit Adorno: Leben heisst schuldig werden, immer wieder scheitern. Und selbst der wahrlich positiv denkende Hoffnungsphilosoph Ernst Bloch hat nie über die Bedingungen des glücklichen Lebens in ausgemalten utopischen Kategorien oder Lebensbildern verfügt, sondern sich fallweise immer wieder den Abgründen eines «Experiments Welt» geöffnet, was auch Vernichtung und Scheitern beinhalten kann.

Das Pathos der Forderung nach integrativer Anerkennung jeder Individualität ist das eine. Man kann sich dem anschliessen, muss dann aber mit gewaltigen anarchischen Verwerfungen des Realen rechnen, die dem wahrlich nicht entsprechen. Aber man kann nicht gleicherweise sagen, der Vergesellschaftungsmechanismus ermögliche dies «im Prinzip», nur weil Sprache selbst – angeblich bis in ihre vorsprachlichen Momente hinein – auf Vernunft beruhe.

Nichts, das sprengt

Es gibt in der Wahrnehmung des Religiösen durch Habermas kein Voodoo, es gibt keine Anarchie, keine Askese, keine Radikalität der Obsessionen, keine Grenzüberschreitungen, keine Poesie, keine Kunst. Radikale Denker kommen ebenso wenig vor wie Mystikerinnen, Wagemutige, Obsessive, Wahnsinnige, Verrückte.

Das gilt jedoch nicht nur für die fundamentalistischen Verrückten oder Religionsgründer, sondern auch für einen so agilen Geist wie Arthur Schopenhauer, der bei Habermas keine Rolle spielt. Das entscheidende Argument bewegt sich auf der Linie der freudschen Auffassung vom Fortschritt der mosaischen Religion und der drei Religionen «des Buches»: Zurückdrängung von Opferritualen, Blut und Fetischen; anzustrebende Bildlosigkeit der Gottesvorstellung; Unterwerfung unter Gott als Instanz unbegreiflicher Autorität. Nur die vernünftige Form des Religiösen also zählt.

Sprechen sei – dies der Grundtenor und das Leitmotiv des Denkens von Habermas – virtuell immer schon herrschaftsfrei. Im Alltag gelten wie in der Wissenschaft die Prinzipien des besten, des gewaltfreien Arguments. Herrschaftsfreies Argumentieren sei die Möglichkeit des Forschens wie des ethisch zuträglichen Lebens. Nur so setze sich das beste Argument zwangsläufig durch.

Diese Überzeugung impliziert in schlichter Weise die grosse Affirmation, dass alles nützlich wirken könne, fortschrittlich und positiv sei, Sicherheit geben müsse. Handeln und Denken gelten nur, wenn sie vernünftig sind, und vernünftig sind sie nur, wenn sie den universalen Bedingungen und Parametern der eingebauten Vernunft, also den alles beherrschenden Normen des universalen Schematismus zu entsprechen vermögen. Nichts kommt vor, was dem widersprechen oder es gar sprengen würde.

Letztendlich werde alles gut, nicht nur wahrheitsgerecht, sondern eben auch ethisch umgesetzt. Alles folge dem besseren Argument im zwanglosen, freien Diskurs unter anerkannten mündigen Personen. Dies in Alltag wie in Wissenschaft. Es würde einen interessieren, in welche Welt Habermas hier blickt. Eine herrschaftsfreie Kommunikation hat es nie gegeben. Und wenn bei Habermas der reale Forschungs- und der alltägliche Diskussionsprozess nur funktionieren, wenn sie ideal funktionieren, dann funktionieren sie eben überhaupt nicht. Gesellschaft gründet in komplexen Beziehungsmustern und Handlungsformen. Sprache gehört gewiss dazu. Ebenso gewiss aber vieles andere, Vor- und Aussersprachliche. Der rationalistische Universalismus von Habermas glättet und verharmlost Philosophie wie Wissenschaft, wirkt – wohl unbeabsichtigt, aber doch entschieden – auf eine Verarmung der Lebenswelt, ihrer Kontroversen und Debatten, Reibungskräfte und Divergenzen.

Hans Ulrich Reck ist Philosoph und Kunsthistoriker. Von 2014 bis 2020 war er Rektor der Kunsthochschule für Medien Köln. Letzte Publikation: «Pasolini. Der apokalyptische Anarchist». Spector Books. Leipzig 2020. 168 Seiten. 33 Franken.