Habermas verteidigt: Auf den Spuren der Vernunft

Nr. 20 –

Sind die Hauptwerke von Jürgen Habermas obsolet geworden, weil sie einem idealistischen Weltbild unterliegen? Eine Replik.

Seit fünfzig Jahren zieht sich ein zentrales Thema durch das umfangreiche Werk von Jürgen Habermas: eine normative Ordnung jenseits jeder Metaphysik zu begründen, das heisst, einen Orientierungsrahmen zu entwickeln, der sich nicht auf Gott oder ein höheres Wesen beruft, sondern im Diskurs, in Aus- und Verhandlungen erarbeitet wird. In seiner Geschichte der Philosophie zeigt er, wie diese dazu beitragen kann, dass wir eine individuelle und kollektive Welterklärung aus «guten Gründen» und aufgrund «diskursiver Vernunft» erreichen können. Da fragt sich schon, was Hans Ulrich Reck meint, wenn er unter dem Titel «Ein Werk am Ende» von den «unbegründeten metaphysischen Grundannahmen» in Habermas’ Philosophie schreibt (siehe WOZ Nr. 15/2022 ).

Habermas teilt die Diagnose von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in deren «Dialektik der Aufklärung», die instrumentelle, technisch-rationale Vernunft habe in der Moderne überhandgenommen. Demgegenüber setzt er auf die kommunikative Vernunft, die sich als historischer Lernprozess zur kollektiven Verständigung beschreiben lässt. Dieser Lernprozess verläuft in der Praxis unserer Lebenswelt selbstverständlich nicht linear, ist konfliktreich und komplex.

Habermas schlägt vor, Gesellschaft gleichzeitig als System- und Lebenswelt zu verstehen. In seiner Kommunikationstheorie bezieht er sich auf eine breite soziologische Tradition (Karl Marx, George Herbert Mead, Max Weber), um system- und handlungstheoretische Erfordernisse plausibel kombinieren zu können. Nach Habermas stabilisieren sich Gesellschaften diesem Konzept entsprechend zweifach: einerseits über kommunikatives Handeln, das sich an Werten und Normen orientiert (Lebenswelt); andererseits durch ökonomische und machtpolitische Prozesse, in denen häufig die direkte Kommunikation durch Geld, Macht und Ideologien ersetzt wird (Systemwelt). Habermas spricht von einer Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Systemwelt.

Manipulatives Reden entlarven

Die «Verwerfungen des Realen», die Hans Ulrich Reck bei Habermas vermisst, werden sehr wohl mitbedacht und nicht idealisiert. Die entsprechenden Verständigungspraktiken hat Habermas historisch und sprachtheoretisch untersucht, und er hat ein Modell der Diskursethik entwickelt, das auf die Frage antwortet: Wie kann idealerweise, mit den Mitteln der Alltags- und Umgangssprache, bei strittigen Fragen eine Einigung erzielt werden? Der vernünftige, klärende Weg dahin führt nach Habermas über den Diskurs. Und ebendieses diskursive Verfahren beziehungsweise diese Prozedur bindet er an die Regeln eines nachvollziehbaren Begründungsprozesses, der davon ausgeht, dass es keinen Begriff des Wahren (objektive Fakten), Richtigen (Werte, Normen) und Wahrhaftigen (Geltungsansprüche) ohne Prüfung gibt. Alle Begriffe bleiben fallibel, das heisst, eine Wahrheit ist immer nur so lange gültig, bis sie falsifiziert oder von einer besseren abgelöst wird. Dieses pragmatische Verständnis bleibt für weitere Diskurse offen, verhärtet sich nicht in dogmatischer Starrheit, ist offen für Fehler und Irrtum.

Wer wie Reck behauptet, Reden sei «immer auch gewaltbestimmt oder manipulativ», macht es sich zu einfach. Das ist Reden zwar häufig, aber es kommt darauf an, dass man gewaltbestimmtes und manipulatives Reden erkennt, entlarvt und ihm die wahrhaftige Rede entgegensetzt. Dafür ist es notwendig, das kommunikative Handeln zu erforschen, zu regeln, zu institutionalisieren und an den Schulen sowie im politisch-demokratischen Prozess zu lernen. Hier hat Habermas einen eindrücklichen Beitrag geleistet, der noch längst nicht abgeschlossen ist.

Die Aktualität des kommunikativen (Ver-)Handelns zeigt sich an der versuchten Bewältigung der Klimakrise. In den Pariser Verhandlungen 2015 redete die ganze Welt miteinander, um einen Ausweg aus der Krise und vereinbarte, konkrete Ziele zur Nullemission von CO₂ zu finden. Dass sich dabei Wissenschaft und Politik eine Debatte lieferten, die pragmatische Ergebnisse erbrachte, darf nicht unterschätzt werden. Natürlich ist damit die Umsetzung der Ziele noch nicht vollzogen, aber ohne Diskurs hätte man sich gar nicht erst auf diese gemeinsamen Ziele einigen können.

Die Zukunft der Europäischen Union entscheidet sich nach Habermas auf der Ebene einer Fusion verschiedener Kulturen. Über alle kulturellen und sozialen Abstände hinweg verbinde die Bürger:innen letztlich die gegenseitige Anerkennung als Staatsbürger:innen und politische Mitgesetzgeber:innen. Wir täten gut daran, das als nie vollständig abzuschliessenden Prozess im Verständnis von universalistischen vernünftigen Geltungsansprüchen (kommunikative Vernunft) zu betrachten; universalistisch im Sinne von allgemeinen Normen, aus denen sich gleiche Rechte für alle Beteiligten ergeben. Die normative Geltung der Menschenrechte ist für Habermas selbstredend nicht auf ihren abendländischen Kontext zu beschränken. Nur so liessen sich die Fortschritte auf dem Weg des klassischen Völkerrechts zu einem universalistischen Recht der Völkergemeinschaft erklären, schreibt Habermas 2020 in der Zeitschrift «Leviathan».

Krieg in der Ukraine und Empörung

Mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Wladimir Putin das Völkerrecht in krassester Weise verletzt. Was sagt Jürgen Habermas dazu? Mit klaren Worten hat er in der «Süddeutschen Zeitung» die russische Aggression in der Ukraine verurteilt – um dann trotzdem seine Irritation über die Selbstgewissheit zu gestehen, mit der der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wegen seines Zögerns, schwere Waffen in die Ukraine zu liefern, kritisiert wird. Habermas rechtfertigt dessen Zögern mit dem Dilemma zwischen zwei Übeln, «einer Niederlage der Ukraine oder der Eskalation […] zum dritten Weltkrieg». Mittlerweile hat Scholz der Lieferung schwerer Waffen zugestimmt, trotzdem bleiben Habermas’ Ausführungen bemerkenswert.

Das Risiko eines Weltenbrands lasse keinen Spielraum für riskantes Pokern, so Habermas. Aus dem Kalten Krieg hätten wir gelernt, dass ein Sieg gegen eine Atommacht keine Option sei und dass dieser Krieg bestenfalls mit einem Kompromiss beendet werden könne. Andererseits könne sich der Westen nicht beliebig erpressen lassen. Noch müsse mit Putin verhandelt werden. Der Ruf «Putin nach Den Haag!» zeige zwar, wie selbstverständlich die normativen Massstäbe in der Bevölkerung mittlerweile seien. Zugleich aber zeigt sich Habermas überrascht, dass nach dem Internationalen Strafgerichtshof gerufen werde, obwohl dieser weder von Russland und China noch von den USA anerkannt werde: «Gewiss, ohne moralische Gefühle keine moralischen Urteile; aber das verallgemeinernde Urteil korrigiert auch seinerseits die beschränkte Reichweite der aus der Nähe stimulierten Gefühle.» Ein für Habermas typischer Satz, der die einfache Tatsache umschreibt, dass man sich von seinen Gefühlen nicht mitreissen lassen dürfe.

Noch nicht am Ende

Die sogenannte «Zeitenwende» (Scholz) macht laut Habermas bewusst, dass eine Europäische Union nur dann politisch handlungsfähig werde, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen könne. Zunächst müsse man aber aus dem Dilemma finden, mit der vorsichtigen Formulierung des Zieles, «dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren darf». Gerade mit differenzierten Interventionen wie diesen beweist Habermas auch angesichts eines neuerlichen Krieges in Europa: Nein, dieses Werk ist noch lange nicht «am Ende».