Ein Traum der Welt: Schanghai in Aufruhr?

Nr. 16 –

Annette Hug zählt auf, was sie nicht versteht

Ein australischer Korrespondent, der seit zwei Wochen in seiner Wohnung in Schanghai festsitzt, räumt ein Missverständnis aus dem Weg: Dass Leute in China gegen lokale Behörden protestieren, ist nicht ungewöhnlich. Spontaner Volkszorn gehört zum Alltag, man soll also nicht denken, die Videos von Leuten, die verzweifelt aus Fenstern schreien, sie hätten Hunger, oder sich körperlich mit Beamten anlegen, seien Anzeichen eines Aufstands. Als ich 2017 zwei Monate in Schanghai verbrachte, war mir das in den ersten Tagen aufgefallen: Die heftige Art, wie da ein Rentner einem Polizisten öffentlich seine Meinung sagte, war ich aus der Schweiz nicht gewohnt. Meine Vorstellung davon, was ein autoritärer Staat sei, verfing offenbar nicht.

Aber der Zorn, der sich jetzt zum Beispiel auf der Social-Media-Plattform «WeChat» Bahn bricht, wirkt anders. Irgendetwas ist neu. Zum Wortschatz, den ich dieser Tage lerne, gehört der Ausdruck «Nachbarschaftsgruppeneinkauf», auf Chinesisch sehr viel eleganter: 小区团购, sprich: xiao qu tuan gou. Und wieder einmal wird mir bewusst, was ich alles nicht begreife: Wer ist genau der Staat? Die städtischen Behörden, die nicht genug Gemüse liefern und kaum Fleisch? Die Männer in weissen Schutzanzügen, die Haustiere zu Tode geknüppelt haben, nachdem ihre Besitzer:innen in ein Quarantänezentrum umziehen mussten? Oder beginnt der Staat erst bei den Vorgesetzten, die nach einem Shitstorm diese Praxis unterbanden? Zu wem gehört der Wachmann am Eingangstor der Nachbarschaft? Ist er mit dem Parteikomitee verbunden, das sein Büro gleich hinter dem Wächterhäuschen hat? Oder ist er seit der Privatisierung vieler Überbauungen ein einfacher Angestellter der Immobilienfirma? (Zu einigen dieser Fragen habe ich entgegengesetzte Auskünfte erhalten.)

Dass viele Nachbarschaften gut organisiert sind, zahlt sich im Moment jedenfalls aus: Weil der Detailhandel zusammengebrochen ist, schaffen es kleine Komitees, für einige Hundert Leute en gros einzukaufen und Esswaren zu verteilen. Innerhalb der Überbauungen nehme auch der Tauschhandel zu, ist zu lesen: Eier gegen Früchte zum Beispiel, im Schutz der Dunkelheit. Und das in einer Stadt, in der man kurz vor der Pandemie kaum noch bar zahlen konnte. Offenbar funktioniert auch der Onlinezahlungsverkehr nicht mehr überall.

Der Zorn, der sich im Internet Luft macht, richtet sich gegen dieses organisatorische Versagen. Lokalbeamt:innen werden nach dem Debakel wohl reihenweise entlassen werden – so beantworten die höheren Regierungsstellen den spontanen Volkszorn im Normalfall. Was ich nicht verstehe: dass es immer wieder Leute gibt, die solche Himmelfahrtsjobs überhaupt machen. Wobei auch harmlose Posts über Schwierigkeiten bei der Nahrungsbeschaffung verschwinden können. Auf der Suche nach einem Link von gestern lerne ich den Satz: «Aufgrund groben Regelverstosses ist dieser Content nicht einzusehen.»

Und weil ich mir wirklich Sorgen um einige Bekannte mache, will ich einem Autor:innenverband aus der Provinz glauben, der in lyrischen Zeilen zu neuem Enthusiasmus aufruft. «Lichten sich Wolken der Pandemie, dann treibt der Frühling die Blumen zur Blüte.» Oder so. Für einmal bricht selbst die Eleganz chinesischer Gedichtzeilen.

Annette Hug ist Autorin in Zürich.