Kommentar von Judith Poppe: Das bedrohte Wunder
Die Lage in Israel und Palästina ist äusserst angespannt. Wie lange kann sich die wacklige israelische Regierungskoalition noch halten?
Jeder Tag, an dem diese Regierung existiert, ist eigentlich ein Wunder. Darin waren sich die meisten Israelis einig, seitdem im letzten Juni dieses bemerkenswerte Bündnis vereidigt wurde. Denn es vereint die rechte Siedler:innenpartei von Ministerpräsident Naftali Bennett, besatzungskritische linke Parteien – und nicht zuletzt auch eine arabische Partei, die islamische Ra’am.
Als Wunder galt die Regierung demnach schon vor den derzeitigen erhöhten Spannungen. Bevor in den letzten Wochen Attentäter in vier israelischen Städten vierzehn Personen töteten, bevor auf dem Tempelberg israelische Polizist:innen und Palästinenser:innen zusammenstiessen und bevor rechte Jüd:innen mit einem Marsch ihre Souveränität über ganz Jerusalem demonstrieren wollten.
Als die Regierung vereidigt wurde, stand für die Beteiligten ausser Frage: Diese Koalition hat nur eine Chance, zu bestehen, wenn die grossen Fragen zum palästinensisch-israelischen Konflikt weitestgehend aussen vor bleiben. Doch nun lässt sich der Konflikt nicht mehr ausklammern – und aus einem Wunder ist ein Überlebenskampf geworden.
Als Reaktion auf das Vorgehen der Polizei auf dem Tempelberg hat die Ra’am-Partei ihre Teilnahme am Bündnis auf Eis gelegt – vorerst für zwei Wochen, in der Hoffnung, so den Druck aus den eigenen Reihen zu verringern und einen dauerhaften Bruch mit der Regierung zu verhindern. Die Entscheidung fällt in die Pessach-Sitzungspause, erst am 8. Mai wird die Knesset wieder tagen. Bis dahin hat der Schritt, der mit dem Ministerpräsidenten abgesprochen war, keine praktischen Auswirkungen.
Die Regierung hängt jedoch ohnehin am seidenen Faden. Vor zwei Wochen erklärte eine Abgeordnete der rechten Yamina-Partei wegen eines Streits um religiöse Fragen ihren Austritt aus der Koalition – und entzog ihr damit die hauchdünne Mehrheit. Nun, mit Ra’am auf der Kippe, werden ein Misstrauensvotum und damit Neuwahlen immer wahrscheinlicher.
Dabei kämpft der Ra’am-Vorsitzende Mansur Abbas für das Fortbestehen der Koalition. Der Pragmatiker weiss sie zu schätzen, und ihm ist klar, dass sich die Situation für die Palästinenser:innen im Fall von Neuwahlen angesichts der rechten Mehrheit unter den Wähler:innen nur verschlechtern kann.
Das derzeitige breite Regierungsbündnis geht einiges anders an als die rechts-religiöse Vorgängerregierung. Das zeigt sich auch in einer erhöhten Dialogbereitschaft, etwa mit Jordanien, dem Nachbarland, das den Tempelberg verwaltet. Doch mit den Anschlägen wurde Israel in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. «Damit hat Israel die Sicherheitsbrille aufgesetzt und fällt in Verhaltensmuster früherer Regierungen zurück», sagt Aviv Tatarsky, Mitarbeiter der NGO Ir Amim. Die Razzia auf dem Tempelberg am vergangenen Freitag etwa sei unnötig gewalttätig gewesen, so Tatarsky.
Doch es sind nicht nur rechte Kräfte innerhalb der Regierungskoalition, die der Ra’am-Partei eine Zusammenarbeit schwer machen. Auch von ausserhalb der Regierung kommt von weit rechts Druck. Beispielsweise hatten rechte jüdische Gruppierungen für Mittwoch einen Marsch um die Altstadt Jerusalems angekündigt. Die Polizei hat den Marsch untersagt. Doch bis Redaktionsschluss wurde davon ausgegangen, dass dennoch einige Demonstrant:innen nach Jerusalem reisen. «Der Finger ist am Abzug», drohte die Hamas im Vorfeld zum Marsch.
2021 hat eine ähnliche Melange aus Ereignissen zu einem elftägigen Krieg zwischen der Hamas, die den Gazastreifen regiert, und Israel geführt. Nun versucht die Regierung, das Land weiser als ihre Vorgängerin durch die aufgeheizte Zeit um Pessach und Ramadan zu navigieren. Ob sie eine Explosion in Form eines Krieges und eine Implosion der Regierung verhindern kann, werden die nächsten Tage zeigen.
Doch eines ist bereits jetzt klar: Nur wenn Israel den Konflikt mit den Palästinenser:innen angeht, der Besatzung ins Auge blickt und eine Lösung mit gleichen Rechten für alle gefunden wird, hat das Land eine Chance auf wirkliche Stabilität.