Wichtig zu wissen: Ohne Gewähr bei Fuss
Ruedi Widmer über die Linken
In diesen Ostertagen, zwischen dem Untergang der «Moskwa» und der möglichen Wahl von Le Pen, befinde ich mich in einem kaum noch auszuhaltenden Gefühlschaos. Als Mensch, der Lustiges mag, kommt mir das Lustige gerade unpassend vor, unwesentlich, irrelevant. Wenn es am Sonntag in Frankreich schlecht läuft, entsteht ein weiteres faschistisches Land.
Kürzlich hatte ich einen intensiven Traum. Es war Samstag, ein drückend heisser Sommertag, die Leute waren aufgeregt, tigerten herum, es gab kein anderes Thema mehr als einen Grossanlass, der abends weltweit im Fernsehen übertragen werden sollte, ähnlich wie an einem WM-Spieltag der Schweizer Fussballnationalmannschaft. Man trank Bier aus der Migros. Um 18 Uhr Schweizer Zeit schliesslich wohnte die ganze Welt einem völlig verrückten Akt bei: Russland zündete hoch über dem Schwarzen Meer seine Zar-Wasserstoffbombe, ein roter gigantomanischer Feuerball, der den Abend zum Morgen werden liess, als Symbol, als Einschüchterung für die ganze Welt. Ich hatte nicht mal wirklich Angst, es war einfach das sowieso Unausweichliche geschehen.
Wenn ich auf Facebook oder in linken Restaurants und Absteigen bin, lese ich Beiträge, Plakate und Annoncen von pazifistischen Bewegungen, der SP, der GSoA, den Grünen, dem Revolutionären Aufbau, der Antifa, anarchistischen Bewegungen, kurdischen Nationalist:innen, Flüchtlingshelfenden. Alles gutschweizerischer «linker Kuchen», und am 1. Mai reihen sich diese Anliegen schön im Demozug ein. Alles ein bisschen wichtig und ein bisschen gut. Und nun fällt seit Russlands Angriff auf, welche Gräben und Abgründe sich zwischen diesen Positionen auftun:
Deutsche Linke, die sich gegen die deutsche Aufrüstung wehren, gegen den deutschen Waffenverkauf an kriegführende Länder; grüne deutsche Politikerinnen mit plötzlicher Regierungsverantwortung, die Waffengeschäfte befürworten (das «Geschäfte» verdrängen sie geflissentlich); Linke, die gegen die USA sind und zwangsläufig auf der Seite Russlands stehen, dies aber nicht problematisch finden; linke Satiriker, die zu Putin-Trötzlern werden; Pazifistinnen, die für Verhandlungen zwischen den kriegführenden Ländern sind und als naiv bezeichnet werden; Linke, die zu ukrainischen Nationalistinnen mutieren; die GSoA, die erst recht jetzt die F-35 verhindern will; Sozialdemokraten, die sagen, sie könnten sich die F-35 vorstellen, wenn die Schweiz näher an die Nato rücke; linke Freunde, die sagen, Europa müsse verteidigt werden, wenn nötig mit Waffen; Grünen-Wähler, die die Laufzeiten der AKWs verlängern wollen, um auf russisches Gas zu verzichten; Linke, die rechte Verschwörungstheorien verbreiten; Antiimperialistinnen, die gegen die Ausdehnung des Westens sind; Linke, die in der Ukraine als freiwillige Kämpfer anheuern; Armeegegnerinnen, die dem VBS Ratschläge für eine moderne Armee erteilen; Antifaschisten, die ins Militär gehen würden, um Europa vor Russlands faschistischer Tyrannei zu schützen; linke Sowjetromantiker, die prinzipiell alles gut finden, was aus Moskau kommt; Sozialdemokratinnen, die sich die Schweiz in der Nato vorstellen könnten. Und irgendwo ich, zwischen Pazifismus und Atlantikern hin- und hereiernd. Zwischen Augenzu und Antifa. Zwischen Ostermarsch und Nato-Osterweiterung.
Dabei hat sich doch die Welt innert weniger Wochen so stark gewandelt, dass uns wahrscheinlich die hehren Prinzipien und das «Geschwätz von früher» wirklich nicht mehr zu kümmern brauchen. Wir müssen unsere Antennen neu einstellen und mehr oder weniger bei null neu zu denken beginnen. Die Sozialistische Internationale hat es jetzt mit der faschistischen Irrationalen zu tun, und die ist schon tief in Erstere eingesickert.
Das wird ein unruhiger 1. Mai. Diesmal nicht wegen der Polizei. Zum Glück gibts bald Schnaps in der Migros.
Ruedi Widmer träumt in Winterthur lieber vom Osterhasen.