Genossenschaftliche Utopie: Konsum war hier keine Privatsache

Nr. 18 –

Keine Kolonie von Mustermenschen: Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das «Freidorf» am Basler Stadtrand als Modellsiedlung gegründet. Was ist davon geblieben?

  • Die Reihenhäuser mit Gärten sind rund um das grosse Genossenschaftshaus gruppiert. Aufnahme von 1968. Foto: Bildarchiv ETH-Bibliothek Zürich
  • Freidorffest im Jahr 1924. Foto: Staatsarchiv Basel-Landschaft, PA 6438
  • Mit dem Bau des Freidorfs konnte der VSK Kriegsgewinnsteuern einsparen. Die Feldpostkarte zeigt an der Siedlung vorbeimarschierende Soldaten. Foto: Bildarchiv ETH-Bibliothek Zürich
  • Die Kosten für die Weihnachtsfeiern wurden mit dem Verkauf solcher von Architekt Hannes Meyer gezeichneten Karten gedeckt. Foto: Staatsarchiv Basel-Landschaft, PA 6438

Alles hier sei Co-op. «Co-op die Menschen und alle Nahrung und Satzung und Kleidung und Zeitung», so beginnt die Aufzählung des Basler Architekten Hannes Meyer. Auch «die Bücherstube, die Bücher darin, deren Inhalt, dessen Geist». Formuliert hatte das Meyer 1925, als Coop noch Verband Schweizerischer Konsumvereine (VSK) hiess und dafür das Ideal der «Kooperation» umso vehementer vertrat. Meyer, der sich da noch der Genossenschaftsbewegung zugehörig fühlte, hatte ein paar Jahre zuvor für den VSK das «Freidorf» in Muttenz auf eine grüne Wiese gebaut. Eine Siedlung, wo «Co-op» zum «Stein und Raum» gewordenen Prinzip geworden sei, «allseitig und allerorts unendlich».

Von der Tramstation «Freidorf» kommend, führt der Weg zur Siedlung heute an einem grossen Coop-Supermarkt vorbei. Am eindrücklichsten wirken die 150 Häuser aus der Luft: als Fünfeck oder als Dreieck mit zwei gekappten Ecken. Doch auch wenn man es zu Fuss erkundet, entfaltet das Freidorf seine Wirkung. Die geraden Linien, die Häuser, Wege, Vorgärten umfassen, strahlen eine zusammengedachte Ordentlichkeit aus.

Gekommen, um zu bleiben

«Das Freidorf ist ein gesamtes Ensemble», sagt der langjährige Freidorf-Bewohner Philipp Potocki, während er mit den Händen die Fluchtlinien entlang seines eigenen Gartenzauns in die Luft zeichnet. Die Siedlung sollte als Dorf für sich stehen, aber Hannes Meyer habe auch die Häuser in «verschiedenen Stufen der Privatheit» geplant, mit dem Vorgarten als «Empfangs- und Begegnungsraum». Potocki führt über «Düngerwege» genannte Querstrassen, auf denen Kinder spielen, zum einstigen Genossenschaftshaus. Dessen Halle hat das Flair eines säkularen Tempels. Heute sind dort Firmen eingemietet.

Politische Reden wurden hier schon nicht mehr gehalten, als Potocki das Genossenschaftshaus erstmals betrat, vor fast fünfzig Jahren. Einer der nationalen Zentralcomputer von Coop stand darin – Potocki arbeitete als Programmierer für den Detailhandelsriesen. Das Freidorf sei damals «Teil des Salärsystems bei Coop» gewesen. Ende der 1980er Jahre erfüllte die Familie Potocki die Bedingungen für ein Haus im Freidorf (mindestens ein Kind, zwei Elternteile, davon mindestens ein:e Coop-Mitarbeiter:in). Zwei Jahre mussten sie warten, bis sie ein Freidorfhaus beziehen konnten. Potockis Arbeitskolleg:innen, die nicht im Freidorf wohnten, hatten dafür dann Vorrang bei Lohnverhandlungen. Die Potockis sind nie wieder umgezogen.

Ein paar Jahre nach dem Einzug kam Potocki in den Genossenschaftsvorstand, wo er neben vielen anderen Aufgaben auch die Verantwortung für das Siedlungsarchiv übernahm. Erst da habe er in der ganzen Tiefe erfasst, was alles ideell hinter dem Freidorf steckt. Er schlägt eine alte VSK-Broschüre auf: «28 Männer helfen sich selbst». Als Bildgeschichte ist darin geschildert, wie sich 1844 verarmte Weber im englischen Rochdale von ausbeuterischen Zwischenhändlern emanzipierten und den ersten modernen Genossenschaftsladen starteten.

Das Freidorf war die erste «Vollgenossenschaft» der Schweiz. Die Genossenschaftsideologie sollte hier ab 1920 das ganze Leben erfassen: Man wohnte im Freidorf, man kaufte im Freidorfladen ein, man zahlte ins Freidorf-Sozialsystem ein und engagierte sich in Kommissionen. Diese Vollgenossenschaft initiiert hatte die Leitungsebene des VSK – allen voran Bernhard Jäggi (1869–1944), der dem Genossenschaftsverband während Jahrzehnten vorstand und bis an sein Lebensende selbst im Freidorf wohnte.

Einkaufen mit Freidorfgeld

Zu Beginn lebten ein Sechstel aller VSK-Angestellten mit ihren Familien im Freidorf: «Fabrikarbeiter aus der Schuhfabrik, Bürolisten niederer Chargen, aber auch etliche Direktoren und Journalisten aus der Coop-Presse, teilweise harte Ideologen», wie Potocki sagt. Er betont, dass manche Journalisten des «Genossenschaftlichen Volksblatts», des Vorläufers der heutigen «Coop-Zeitung», sehr kritisch über die Privatwirtschaft berichteten. «Die Genossenschaftsideologie verstand sich als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus», erklärt er. Sie hinterfragte nicht das Privateigentum an sich, sondern jenes, das ohne Arbeit erwirtschaftet wurde. Das Kapital sollte gesellschaftlich verantwortungsvoll eingesetzt werden.

Wichtig für das Freidorf waren damals auch die reformpädagogischen Ideen von Johann Heinrich Pestalozzi. Die Primarschule im Genossenschaftshaus war nach dessen Prinzipien organisiert. Den Frauen in der Genossenschaft war eine traditionelle Rolle zugedacht: Sie engagierten sich in der «Gertrud-Gruppe», einer Art Spitex, die Alte und Gebrechliche unterstützte. Der Name «Gertrud» geht auf eine Figur in einem Roman von Pestalozzi zurück.

Im Genossenschaftshaus war neben der Schule und einem Restaurant auch der Laden untergebracht, wo die Bewohner:innen einkaufen mussten. Ihre Einkäufe tätigten sie mit «Freidorfgeld». Wenn die Bewohner:innen Schweizer Franken zum Kurs eins zu eins gegen Freidorfgeld tauschten, wurde das vermerkt. So hatte die Genossenschaft immer den Überblick, wer wie viel einkaufte und dementsprechend Anspruch auf Rückvergütung Ende des Jahres hatte. Von 1921 bis 1924 erhielt jede Familie im Schnitt 200 Franken jährlich aus dem Gewinn des Freidorfladens. Für ein Vierzimmerhaus zahlten die Genossenschafter:innen 850 Franken Miete pro Jahr. Das Wohnen schien sich schon fast zu lohnen.

Unter Verdacht

Doch das Leben im Freidorf bedeutete eben mehr als passives Wohnen. Neben der Pflicht zur Mitarbeit in Kommissionen wie der Betriebskommission, die den Laden verwaltete, waren die Bewohner:innen angehalten, nicht nur Missstände, sondern auch «Zustände, die der Genossenschaft zum Nachteil gereichten», zu melden. Potocki schildert den Fall eines Pärchens, das von der verantwortlichen Kommission konfrontiert wurde, weil beide nie Fleisch einkauften. Als die Kommissionsmitglieder überzeugt waren, dass die Angeschuldigten vegetarisch leben, war die Angelegenheit erledigt. Doch ohne Erklärung ging es nicht: Einkaufen ging alle an. Konsum war keine Privatsache.

Den wöchentlichen «Sparbatzen» von mindestens zehn Rappen haben die Siedlungskinder eingezogen. Der Hintergedanke: So konnte die Genossenschaft Diskussionen über oder Widerstand gegen die Sparpflicht aushebeln. Die Gründer:innen um Bernhard Jäggi waren überzeugt: Wenn die Menschen im Freidorf sparten, verhelfe das der ganzen Gesellschaft zur Erkenntnis, «dass es in der Macht der Menschen läge, für ihre Zukunft bessere Vorsorge zu treffen», wie es im Freidorf-Jahresbericht von 1922 heisst. Zwar sei das Freidorf, wie der Bericht betont, «nicht zur Installation einer Kolonie von Mustermenschen» erbaut worden. Doch es solle eine Stätte sein, «wo die Menschen sich an Gemeinschaftsaufgaben beteiligen und damit an ihrer Vervollkommnung arbeiten». Man kann das soziale Kontrolle oder gemeinschaftliche Prinzipien nennen. Schon in der Anfangszeit gefiel es nicht allen: «Dem Eigenbrödler», so Architekt Hannes Meyer, erscheine das Freidorf als «Zwangserziehungsanstalt».

Zwischen den Lagern

Zur facettenreichen Geschichte des Freidorfs gehört auch, dass der VSK durch den Bau Kriegsgewinnsteuern einsparen konnte. 1922 erzielten der VSK und die über 500 lokalen Konsumvereine in der Schweiz fast 400 Millionen Franken Umsatz – mehr als das Doppelte als noch 1912, vor dem Ersten Weltkrieg. Da war es dem VSK nur recht, dass man soziale Wohnprojekte von der Steuer auf Gewinnsteigerungen während des Krieges absetzen konnte. Ohne Steuerschlupfloch keine Utopie: Für 7,5 Millionen Franken baute sich der VSK sein utopisches Modelldorf.

Die jährlichen Überschüsse aus den Freidorf-Liegenschaften flossen in die «Stiftung zur Förderung von Siedelungsgenossenschaften» – denn weitere Freidörfer sollten folgen. Nach der damaligen Rechnung sollte es in hundert Jahren, also heute, fünf Freidörfer geben. Von diesem Ursprungsplan fasziniert, möchte der Zürcher Architekt Urs Maurer, der in den 1940er Jahren im Freidorf aufwuchs, mit Unterstützer:innen ein «Freidorf II» gründen. Diese Idee ist aber noch nicht über die Besichtigung einer leeren Fabrikhalle im Jura hinaus gediehen.

Trotz ihres Einflusses und ihrer Marktmacht stand die Genossenschaftsbewegung zwischen den politischen Lagern: Der christkatholische Patriarch Jäggi sass bis 1916 für die SP im Nationalrat, trat dann wegen des Linksrucks zurück und aus der Partei aus. Andere wie Karl Oskar Schär politisierten am linken Rand der Freisinnigen. Auch das Freidorf selber, so skizziert es die Gründungsgeneration, stand politisch zwischen Stuhl und Bank. Architekt Hannes Meyer schrieb 1925, das Freidorf gelte «dem Bourgeois» als «rotes Nest» und sei «dem Sovjetstern nicht rot genug». Meyer wurde 1928 Nachfolger von Walter Gropius am Bauhaus in Dessau, 1930 wanderte er nach Moskau aus. Das Freidorf sah er später kritisch: als kleinbürgerlich.

Was entsteht, was vergeht

Jäggi starb 1944. Neue Bewohner:innen kamen ins Freidorf. Das Leben im Vorort von Basel war immer weniger auf die Siedlung ausgerichtet: Kommissionen stellten ihre Arbeit ein, interne Vereine und Orchester lösten sich auf, der Laden ging aus der genossenschaftlichen Selbstverwaltung an Coop über. Vorbei war es mit der «Vollgenossenschaft». An der Entwicklung des Freidorfs, schrieb später der Kulturanthropologe Matthias Möller in seiner Dissertation «Leben in Kooperation» (2015), könne man das «Entstehen, Gelingen und Vergehen» von «genossenschaftlichen Utopien» verfolgen.

Manches von dem, was verging, war dem nicht kalkulierbaren gesellschaftlichen Wandel geschuldet. Andere Ideen scheiterten aber auch an der mangelnden Umsicht der Gründungsgeneration – trotz der Wirtschaftsführer unter ihnen. Laut Potocki glaubten einzelne Vorstandsmitglieder in den 1920er Jahren, dass sie in den Häusern irgendwann mietfrei leben könnten: «Kosten für Instandhaltung, Sanierung und Steuern haben sie anfangs überhaupt nicht mitbedacht.» In den ersten Jahrzehnten wurde denn auch die Miete nie angepasst – «bis die Fensterläden runterfielen», so Potocki. Erst 1959 – und bald darauf nochmals – beschloss die Genossenschaftsversammlung höhere Mieten.

«Etwas homogener als ortsüblich»

Heute gilt das Freidorf als bedeutendster Siedlungsbau der Zwischenkriegszeit in der Schweiz. Für seinen architektonischen Wert erhält es mehr Aufmerksamkeit als für die genossenschaftliche Utopie, die an seinem Anfang steht. Andere Genossenschaften pflegen mittlerweile ein experimentelleres und gemeinschaftlicheres Zusammenleben als das Freidorf. Potocki sagt, die Einwohner:innen seien «etwas homogener als ortsüblich». Die Zeiten, als in der Genossenschaft offen Vorurteile – «nur schon, wenn jemand einen Namen mit -ic hatte» – geäussert wurden, seien zwar vorbei. «Aber dass du bei Coop arbeiten solltest und eine Familie mit Kindern und zwei Elternteilen sein musst, schränkt ein», sagt Potocki. Ein weiterer Grund ist wohl auch, dass die durchschnittliche Mietdauer dreissig bis fünfzig Jahre beträgt.

Potocki erinnert aber an eine politische Mahnung aus der Gründungsphase des Freidorfs, die bis ins Heute nachhallt: Das Freidorf war ein Versuch, der Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg entschieden entgegenzutreten, indem man Land der Spekulation entzog. «Jedes Mal, wenn ich höre, wie stark die Marktmieten in den Städten nun wieder steigen, lange ich mir an den Kopf», sagt Potocki. Wenn der Staat nicht die Spielregeln etwa im Sinne von SP-Nationalrätin Jacqueline Badran ändere, gebe es nur einen Weg aus dem Spekulationskreislauf: «Genossenschaften müssen Land aufkaufen, fair bewirtschaften und behalten.»

Philipp Potocki, Bewohner

Darauf, dass hinter Coop mal eine politische Bewegung stand, deutet in den Supermärkten nichts. Selbst wer den ökologischen Versprechen der Coop-Werbung glaubt, kann sich kaum mehr vorstellen, dass Coop einst für eine gemeinschaftliche Utopie stand, die alle Lebensbereiche erfasst. In der Unternehmensgeschichte wird das Freidorf nur am Rand erwähnt.

Chronik : Freidorf: Die wichtigsten Daten

4. Mai 1919
65 Prozent der Schweizer Männer stimmen Ja zur «ausserordentlichen Kriegssteuer». Von der Steuer ausgenommen sind soziale Projekte wie das Siedlungsprojekt Freidorf.

11. Mai 1919
Bernhard Jäggi, Präsident der Verwaltungskommission des Verbands Schweizerischer Konsumvereine (VSK), stellt den VSK-Angestellten das Projekt einer «Vollgenossenschaft» vor. Auch Architekt Hannes Meyer präsentiert seine Umsetzungsidee.

20. Mai 1919
Gründungsversammlung der «Siedelungsgenossenschaft Freidorf».

1. Dezember 1919
Spatenstich.

12. September 1920
Gründung der siedlungseigenen Sparkasse.

20. Oktober 1920
Die erste Familie zieht ins Freidorf. Der Laden ist bereits geöffnet.

22. November 1920
Die Freidorf-Schule startet mit achtzehn Kindern.

31. März 1921
Alle 150 Häuser sind bezogen.

Ab 1925
Mit dem Restaurant und dem Start des «Genossenschaftlichen Seminars» im zentralen Genossenschaftshaus erfasst das Siedlungsleben alle Lebensbereiche. Orchester, Volkschor, Kegelbahn und das Engagement in Kommissionen prägen den Alltag in den nächsten Jahrzehnten.

1944
Bernhard Jäggi stirbt.

1948
Das «Freidorfgeld» wird abgeschafft.

1959
Erste Erhöhung der Miete seit der Gründung.

1967
Das Freidorf gibt den Ladenbetrieb an den Allgemeinen Consumverein (ACV) / Coop ab. Damit ist es keine «Vollgenossenschaft» mehr.

1968
Das Restaurant schliesst.

1974
Das Coop-Rechenzentrum zieht ins Genossenschaftshaus.

1995
Wegen des neuen Eherechts werden die Mietverträge nicht mehr nur mit Männern abgeschlossen.

1998
Bewohner:innen dürfen künftig auch dann im Freidorf bleiben, wenn sie nicht mehr bei Coop arbeiten.

Quelle: «Das Freidorf. Die Genossenschaft». 2019 zum 100-Jahr-Jubiläum im Christoph-Merian-Verlag erschienen.