Wohnpolitik: Wo, wo … Umbaurevolution?
In Zürich streitet sich die Linke über den Abriss von zwei alten Genossenschaftssiedlungen. Was dabei vor allem deutlich wird: Die Baureglemente hinken der Klimakrise hinterher.

Die Telefonverbindung ist schlecht, doch die Dringlichkeit kommt durch. Der Architekt Sebastian Bietenhader leitet gerade einen Workshop in Rom, in einer Pause nimmt er sich Zeit für eine kurze Einführung in «proletarische Architektur». Die Seebahnhöfe im Zürcher Kreis 4 seien ein besonders schönes Beispiel. Sie zeigten eine Abkehr von der bürgerlichen Stadtarchitektur des 19. Jahrhunderts mit dem Ensemble von aufeinander abgestimmten Siedlungen, mit grünen Höfen, integrierten Ladenlokalen, Kindergarten und Gemeinschaftssaal. «Dort haben Genoss:innen aus dem Spanischen Bürgerkrieg einst Theater aufgeführt», erzählt Bietenhader. Und er schwärmt von der durchgehenden, gemeinschaftlichen Dachterrasse, «auch eine Form von Widerstandsarchitektur». «Wenn du verfolgt wirst, kannst du so in ein anderes Haus entkommen.» Ob das gewollt war? Das nehme er nicht an, die Möglichkeit sei in der Architektur aber angelegt.
Um diese Seebahnhöfe, zwei Genossenschaftssiedlungen, die sich zwischen Lochergut und Erismannhof entlang der Seebahnstrasse ziehen, ist in der Zürcher Linken ein Streit entbrannt. Die Eigentümerinnen, die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) und die Baugenossenschaft des eidgenössischen Personals (Bep), wollen ihre neunzig Jahre alten, heute baufälligen Siedlungen durch Neubauten ersetzen. So sollen einst 1000 statt wie heute 500 Bewohner:innen in den Genuss einer günstigen Wohnung kommen. Ein vorbildliches Projekt, könnte man meinen – barrierefrei, üppig begrünt, mit Kita, Ateliers, einem Anteil subventionierter Wohnungen. Doch so einfach ist es nicht.
Ausradierte Geschichte
Die Projektplanung gleicht längst einer Odyssee. Ihr Beginn liegt bald zwanzig Jahre zurück. 2016 entliess der Stadtrat die beiden Siedlungen aus dem Inventar der schützenswerten Bauten. Der Heimatschutz rekurrierte und blitzte vor Gericht in zweiter Instanz ab. Letzte Woche nun hiess das Stadtparlament den für den Neubau nötigen Gestaltungsplan gut. Am Schluss war die Mehrheit mit hundert zu elf deutlich. Die SP stimmte geschlossen dafür, nur die AL und ein paar Grüne dagegen. Doch der Widerstand ist laut.
«Die Stadt ist auf dem besten Weg, ihre eigene Geschichte aus der Zeit des Roten Zürichs auszuradieren», sagte Evelyne Noth, Präsidentin des städtischen Heimatschutzes, gegenüber dem «Tages-Anzeiger». Der Grüne Yves Henz sprach im Gemeinderat von einer «Schneise der Zerstörung». Und Karen Hug (AL) befand: «Diese Planung ist aus der Zeit gefallen.» Das findet auch Architekt Bietenhader. Denn wenn man wollte, könnte man durch eine Aufstockung und Erweiterung eine ähnliche Verdichtung erreichen wie mit den geplanten Neubauten.
«Wohnen am Lärm»
In dem Streit kristallisieren sich die Widersprüche, mit denen ein progressiver Städtebau heute notgedrungen zu kämpfen hat. Die ökologischen Kosten von Abriss und Neubau sind enorm. Gleichzeitig braucht es dringend mehr günstigen Wohnraum. Der Platz dafür ist knapp, also muss verdichtet werden. Unter heutigen Bedingungen ist ein Neubau oft die günstigste Option. Das liesse sich mit griffigen Gesetzesanpassungen ändern. Doch die sind langwierig und komplex.
Treffen mit dem Widerstand. Der Architekt Thomas Meyer wohnt als Zwischenmieter in der ABZ-Siedlung und hat im November die «IG Seebahnhöfe retten» mitlanciert. Die Frühlingssonne fällt auf die ruhige Kanzleistrasse, die zwischen den beiden Siedlungen hindurch zum Bullingerhof führt. Die Stimmung ist geradezu beschaulich. An der Ecke hinter Meyer hat der kleine Blumenladen an diesem Samstagnachmittag schon geschlossen, im Lokal an der Ecke gegenüber ist kürzlich eine Gruppe Jungrevolutionär:innen aus- und ein Atelier eingezogen.

Meyer zeigt auf die Fassaden. «Hier sieht man, wie die Gebäude im Ausdruck miteinander kommunizieren. Dieser hochwertige neue Wohnbau für Arbeiter:innen hatte damals europaweite Ausstrahlung, die Architekten des Roten Wien kamen nach Zürich, um sich das anzuschauen.» Die Gesamtwirkung zusammen mit dem denkmalgeschützten Erismannhof würde durch die generischen Neubauten zerstört.
An diesen lässt Meyer kein gutes Haar. Das sei ein typisches Beispiel für «Wohnen am Lärm»: keine Schlafzimmer zur Seebahnstrasse hin, obwohl es dort wunderbare Morgensonne gäbe, und unflexiblere Grundrisse als im Bestand. «Dabei wird die Seebahnstrasse bald zur Dreissigerzone.» Meyer zweifelt auch an den Zahlen der Genossenschaften, statt auf 1000 komme die IG mit ihren Berechnungen nur auf eine Kapazität von 820 Bewohner:innen.
Eine solche Verdichtung wäre auch mit einem Umbau zu erreichen, ist Meyer überzeugt. Durchgespielt hat das der Architekt Julian Bruns schon 2018, noch als Student an der ZHAW. Sein Entwurf sähe eine Aufstockung um zwei Stockwerke und die Erweiterung des Volumens zum Hof hin vor. «Aus ökologischen Gründen ist es verantwortungslos, die Ressourcen zu vernichten, die in diesen Gebäuden stecken», sagt Meyer. Dass die SP trotzdem Ja sage, überrasche ihn nicht. «Die können den Genossenschaften jetzt nicht in den Rücken fallen, wenn sie ihnen vor zehn Jahren versprochen haben, dass das hier funktionieren wird.» Scheitere das Projekt, gebe es hier vermutlich zwanzig bis dreissig Jahre keine zusätzlichen Wohnungen. «Vielleicht haben wir dann aber Baugesetze, mit denen ein Umbau attraktiver wäre als ein Neubau.»
Nun wird es kurz technisch. Veranschaulichen lässt sich das Problem an einer Zahl: 2,4 Meter. So hoch muss ein Wohnraum gemäss Baugesetz des Kantons Zürich mindestens sein, damit ein Bauprojekt bewilligt wird. Häuser aus der Zeit der Seebahnhöfe verfügen mehrheitlich über Decken aus Holzbalken. Um die heutigen Anforderungen, etwa an Brand- und Schallschutz, zu erfüllen, müssen sie verstärkt werden. Ein Umbau wird nicht bewilligt, wenn die Räume dadurch zu niedrig werden. Meyer vermutet, dass das auch hier zum Problem würde. Das macht einen Umbau teuer und komplex. «Es müsste möglich sein, solche Bestimmungen punktuell aufzuweichen, wenn damit ein Abriss verhindert werden kann.» Mit den heutigen Sachzwängen überrasche es nicht, dass sich die Genossenschaften für einen Neubau entschieden.
Anruf bei Sabine Merz, Leiterin Bau bei der ABZ, mit rund 12 500 Bewohner:innen die grösste Genossenschaft der Schweiz. «Ja, unbedingt!», antwortet sie auf die Frage, ob es gelockerte Baugesetze und reduzierte Anforderungen brauche, um durch Umbau bestehende Gebäude zu erweitern. Die ABZ habe Umbauten bei anderen Siedlungen geprüft und festgestellt, dass das viel zu aufwendig wäre. «Häuser aus dieser Zeit nennen wir wegen ihrer reduzierten Bauweise ‹Zündhölzlihäuser›, da kann man nicht einfach Stockwerke draufbauen», sagt Merz.
Es werde behauptet, die ABZ würde leichtfertig abreissen. «Tatsächlich sind wir mit Ersatzneubauten sehr zurückhaltend, auf einen Neubau kommen bei uns rund zehn Sanierungen. Ein Neubau kommt für uns nur infrage, wenn wir die Ausnutzung deutlich erhöhen können», sagt Merz. Die Zahlen der IG könne sie nicht beurteilen, die Schätzung der ABZ habe auch die Stadt als plausibel erachtet. Und: Obwohl die Verzögerung des Projekts höhere Mieten zur Folge habe, seien sie immer noch tief: Rund 1700 Franken soll eine Dreieinhalbzimmerwohnung mit neunzig Quadratmetern dereinst kosten.
Warten auf das Bundesamt
Es sei eher neu, dass die sozioökologischen Kosten von Ersatzneubauten in der öffentlichen Diskussion zum Thema würden. Daran erinnert Gabriela Debrunner, die an der ETH zu Gentrifizierung und Wohnpolitik forscht. Rein ökologisch betrachtet, dürfte man nichts abreissen, aber Gebäude müssten irgendwann erneuert werden, sagt sie. «Natürlich kann man darüber sprechen, wie man die Bestandssanierung noch viel besser machen könnte. Aber im Fall der Seebahnhöfe muss man sich den Protest angesichts der Wohnungsnot gut überlegen. Wenn wir die Genossenschaften nicht bauen lassen, die ihre Wohnungen zur Kostenmiete und damit deutlich unter Marktpreisen anbieten, fehlen diese Wohnungen nachher.»
Und wie geht es weiter mit den Seebahnhöfen? Ein Referendum gegen den Entscheid des Gemeinderats wäre vermutlich chancenlos. Den Abriss verhindern kann wohl nur noch ein überraschender weiterer Player: das Bundesamt für Kultur. Es wacht über das Inventar der schützenswerten Ortsbilder von nationaler Bedeutung, kurz Isos. Zu den Seebahnhöfen läuft eine Prüfung – deren Ausgang ist noch völlig offen.